
Finde den Weg, der dich glücklich macht
Wie lebe ich das Leben, das zu mir passt? Ein Interview mit dem im November verstorbenen Schweizer Kinderarzt und Bestseller-Autor Remo H. Largo („Babyjahre"), der genau dazu geforscht hat
Doktor Largo, Sie haben sich in ihrem Buch „Babyjahre" intensiv mit der Entwicklung des Kindes beschäftigt. Wieso beziehen Sie in Ihrem neuen Buch „Das passende Leben“ nun auch den Erwachsenen mit ein?
„Ein passendes Leben zu führen ist eine Herausforderung von der Geburt bis ins hohe Alter. Das Baby will so viel Milch trinken, wie es für sein Wachstum benötigt. Das Schulkind will dann lesen und rechnen lernen, wenn es entwicklungsmäßig dazu bereit ist. Der Erwachsene will bei der Arbeit die Leistung erbringen, zu der er fähig ist. Das Bemühen, seine Bedürfnisse zu befriedigen und seine Fähigkeiten entfalten und nutzen zu können, trägt wesentlich zum Lebenssinn bei, beim Baby ebenso wie bei seinem Großvater.“
Woher kommt Ihr Interesse am Menschen?
„Im Alter von 13 Jahren musste ich während acht Wochen das Bett hüten und verschlang in dieser Zeit Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ und Fjodor Dostojewskijs „Schuld und Sünde“. Ich war so fasziniert von der einfühlsamen und lebensnahen Darstellung unterschiedlichster menschlicher Charaktere, dass ich mich durch die ganze russische Literatur las. Seither haben mich Fragen, warum die Menschen so verschieden sind, was ihr Leben bestimmt und was das Wesen des Menschen ausmacht, nie mehr losgelassen. Viele Denker und Wissenschaftler wie zum Beispiel der Philosoph Immanuel Kant, der Evolutionsbiologe Charles Darwin, die Pädagogin Maria Montessori oder der Psychologe Jean Piaget haben mir mit ihren Schriften dabei geholfen. Ich war aber auch immer wieder enttäuscht, weil sie nur Teilaspekte ansprachen. Ich aber wollte den Menschen als Ganzes verstehen. Die für mich entscheidende Einsicht dafür war die folgende: So wie der Mensch im Verlauf der Evolution aus einem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt hervorgegangen ist, bemüht sich jeder Mensch von der Kindheit bis ins hohe Alter, seine Individualität in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben.
Sie haben an der Universitäts-Kinderklinik Zürich Studien zur Entwicklungsforschung geleitet und mit den Zürcher Longitudinalstudien eine einmalige Datenbasis geschaffen. Welche Einsichten haben Sie am meisten fasziniert?
„Die Zürcher Longitudinalstudien sind insofern einzigartig, als wir seit 1954 die Entwicklung von fast 800 Kindern in zwei Generationen vom ersten bis zum zwanzigsten Lebensjahr untersucht haben. Man kann sagen, dass sie weltweit zu den wichtigsten Langzeitstudien über die Entwicklung von Kindern zählen. Eine erste Einsicht aus meiner Forschung war, dass die Fähigkeiten von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich ausgebildet sind. So gibt es Kinder, die bereits mit drei bis vier Jahren lesen lernen, während manche normal intelligente Erwachsene dazu kaum fähig sind. Der eine Mensch ist sprachlich und sozial sehr kompetent, nicht aber motorisch und mathematisch, bei einem anderen Menschen ist es genau umgekehrt. Jeder der fast siebeneinhalb Milliarden Menschen ist einzigartig, also ein Unikat. Diese Einsicht hat sich in der klinischen Tätigkeit als sehr fruchtbar erwiesen.“
Welche Rolle spielt die Individualität im Leben?
„Die Menschen können nicht irgendein Leben leben, sondern nur ihr eigenes. Ihre individuellen Bedürfnisse, Kompetenzen und Vorstellungen bestimmen in einem hohen Maße, wie sie leben wollen. In der Gesellschaft und Wirtschaft herrscht immer noch die Meinung vor, wir wären alle gleich, alle Menschen müssten alles können, was – wie wir alle wissen – überhaupt nicht stimmt. Genauso wie jeder Mensch in seinem Wesen einzigartig ist, ist auch sein Lebensweg einmalig. Nur im gegebenen Rahmen unsere Bedürfnisse und Kompetenzen können wir ein zufriedenes Leben führen. Das könnte man als Einschränkung verstehen, es hat aber auch etwas sehr Befreiendes. Wir müssen keine Ausnahmeleistungen erbringen. Die eigenen Grenzen zu akzeptieren, uns so zu nehmen, wie wir nun einmal sind, schützt auch vor Überforderung und Stress.“