
Positiv denken 2.0: Schluss mit Über-Optimismus!

An Positive Psychologie („Du kannst alles schaffen“) haben wir lange geglaubt – und wurden enttäuscht. Jetzt ist sie wieder da, aber viel realistischer
„Das ist eine Nummer zu groß für mich. Das schaffe ich nicht.“ Wie komisch klang das denn? Wir saßen zu viert im „Momo Ramen“ und schlürften japanische Nudeln, als unsere Freundin erzählte, dass sie ihre Bewerbung für die Projektleitung zurückgezogen hatte. „Wieso das? Du schaffst das locker“, hörte ich mich reflexhaft sagen. Und natürlich fiel alsbald auch der Satz, der in solchen Situationen fast unweigerlich fällt: „Du musst an dich glauben!“
Hat der neue Optimismus-Boom eigentlich seine Berechtigung?
Denk positiv! Sei cool! Glitzere, funkele, strahle! Diese Appelle hören wir stetig in den verschiedensten Variationen. YouTuberinnen und Influencerinnen, Body-Positivity-Aktivistinnen, Speakerinnen bei Job-Konferenzen – ja, selbst T-Shirts halten uns dazu an. Der Glaube, dass der Mensch mit der richtigen Einstellung sein Leben kontrollieren kann, war vermutlich noch nie so groß wie heute. Schicksal, Grenzen, Pech und Zufall sind keine Kategorien, in denen wir noch denken. Das konnte man jüngst in dem großartigen Memoir „You can’t have it all“ (auf Deutsch „Gegen alle Regeln“) der „The New Yorker“-Journalistin Ariel Levy nachlesen.
Stärken und Ressourcen erkennen und fördern statt sich aufs Defizitäre konzentrieren
Zum Optimismus-Boom der letzten Jahre hat die Positive Psychologie erheblich beigetragen. Die von dem amerikanischen Psychologen Martin Seligman in den späten 90er-Jahren initiierte Strömung brachte etwas Neues in die moderne Psychologie: Statt vor allem auf das Dunkle und Defizitäre in uns zu schauen, konzentriert sich der neue Wissenschaftszweig darauf, Stärken und Ressourcen zu erkennen und zu fördern. Kurz: What makes you happy?
„Ich liebe mich selbst. Ich kann alles schaffen. Ich bin attraktiv.“
Aber wie es im Leben so ist, nie ist irgendwas ganz einfach! Da kleben wir Post-its ins Badezimmer, die uns schon morgens daran erinnern sollen, was für eine schöne, liebenswerte und erfolgreiche Person uns aus dem Spiegel anschaut. Mit positiven Affirmationen und anderen Tools reden wir uns gut zu, „Ich liebe mich selbst. Ich kann alles schaffen. Ich bin attraktiv.“ Es klingt verlockend. Nach dieser Logik funktionieren auch die populären „Wünsch dir was“- Bestseller, die versprechen: „Wenn du wirklich an dich und dein Ziel glaubst, erfüllen sich deine Träume.“ Zum Teil wurden die Erkenntnisse der Positiven Psychologie sehr vereinfacht. Eine ganze Ratgeber- und Coaching-Industrie hat sich drum herum entwickelt.
Zu glauben, allein die richtige Einstellung macht das Leben schön, setzt uns nur unter Druck
Nun hebe jede die Hand, bei der es wirklich funktioniert hat. Haben inniges Wollen und gute Worte allein den widerspenstigen Typen mit den tollen Augen dazu gebracht, uns zu lieben? Verwandelten wir uns allein durch gute Laune in die talentierte Führungskraft, die wir schon immer sein wollten? Lösten sich Ängste auf, nur weil wir uns sagten: „Alles in bester Ordnung“? Kaum. Selten. Nie.
„Das ‚Don’t worry, be happy‘, das uns in den Ohren tönt, führt dazu, dass viele Menschen so tun, als ob es ihnen gelänge, stets ‚cool‘ und ‚gut drauf‘ zu sein. Hinter dieser Fassade sieht es oft ganz anders aus“, schreibt der Psychologe Matthias Wengenroth, er ist ein wichtiger Wegbereiter der Akzeptanz- und Commitment-Therapie in Deutschland.