
Warum wir alle unfassbar kreativ sind

Nie läuft irgendetwas wie geplant. Dauernd muss man umdenken, improvisieren, Alternativen entwickeln. Blöd? Nein, toll! Diese Lebens-Kreativität, sagt unsere Autorin, ist eine unserer großartigsten Fähigkeiten
Denkt man an Kreativität, sieht man vor seinem geistigen Auge meist eine Gruppe bärtiger Hipster und attraktiv verpeilter Frauen mit zu großen Brillen, die irgendwas mit Kunst in Berliner Hinterhöfen fabrizieren. Kreativität scheint in unseren Köpfen häufig jenen vorbehalten zu sein, die sich beruflich der Kunst verschrieben haben – die Leinwände bemalen, Bücher oder Hits schreiben. Menschen also, die aus sich selbst heraus und oft mit geringen Mitteln etwas erschaffen, was vorher noch nicht da gewesen ist. Aber Kreativität ist schon lange nicht mehr nur ein Künstler- oder Kreativarbeiter-Thema, sondern eins für alle, weil man im Alltag so oft kreative Lösungen finden muss, wenn man sich in einer ganz anderen Lebenssituation wiederfindet als gedacht.
Kreativ sein heißt auch zulassen, dass einem etwas Neues widerfährt
Zum Beispiel ich: Als Teenager wollte ich Sängerin oder Drogistin werden (Popstar wegen des Ruhms, die Parfümerie wegen der Beauty-Produkte). Stattdessen wurde ich Stewardess, flog um die Welt, sammelte Tabletts ein und ein paar Jahre später war ich unverhofft schwanger. Nach drei Jahren als glückliche Vollzeitmutter wollte ich noch ein wenig mehr tun als Möhren kochen, landete schließlich bei einem Magazin und schrieb ironische Artikel, was mir nie jemand beigebracht hatte. Das alles war so nicht geplant. Der Begriff Kreativität stammt vom lateinischen Wort „creare“ ab, was nichts anderes heißt als schöpfen. Es gibt allerdings eine Doppelbedeutung, die dem Begriff „crescere“ entstammt, und das wiederum besagt „geschehen und wachsen“. Man muss bei der Kreativität also nicht nur aktiv etwas tun, sondern auch zulassen, dass einem Neues widerfährt und es einen auf unbekanntes Terrain verschlägt. Hätte mich damals jemand gefragt, wie mein Leben als Mutter und Ehefrau verlaufen würde, hätte ich die Entwicklung, die es nahm, nie voraussagen können. Und heute weiß ich, dass mein größter persönlicher Fortschritt genau in jenen Augenblicken lag, in denen ich ratlos vor einem Trümmerhaufen stand und kapierte: Ich muss mir jetzt echt was ausdenken!
Nicht nur verkopft konzipieren, sondern schön bunt fantasieren
Ausdenken ist ein guter Begriff, den Kinder und kreative Köpfe mit Selbstverständlichkeit benutzen. Er klingt ein wenig naiv, aber trifft so perfekt den Kern: sich etwas vorstellen, was noch nicht ist. Nicht nur verkopft konzipieren, sondern schön fantasieren. Okay, was mache ich nun, überlegte ich, als klar war, dass meine Ehe und das Konzept der heilen Kleinfamilie gescheitert war. Ich nahm mein Kind und flog erst mal nach New York, was vielleicht unvernünftig, aber inspirierend war. Das Gefühl von „Alles ist noch möglich“ nahm ich mit zurück nach Hause und richtete mich in meiner neuen Lebenssituation als Alleinerziehende ein. Und okay, wo geht es nun lang, fragte ich mich, als klar war, dass mein Geld nicht für eine Wohnung reichen wird, die jeden Monat so viel kostet wie eine Weltreise. Also trennte ich mich von allem, was reichlich vorhanden war, beschäftigte mich intensiv mit Minimalismus statt über weitere Designermöbel nachzugrübeln und schuf so ein neues Modell, das zu meinem aktuellen Ich besser passte als das alte.
Was machst du für den Rest deines Lebens?
Ich verlor eine Menge und gewann viel Neues hinzu: Einsichten, Unabhängigkeit, Freiheit, das unbezahlbare Gefühl, auf eigenen Füßen zu stehen. Und als all das geschafft war, war mein Sohn plötzlich ein Mann geworden, und als er schließlich auszog, fragte ich mich: Okay, was machst du mit dem Rest deines Lebens? Jetzt, da ich nicht mehr Mutter und Ehefrau war, sondern nur noch ich selbst in meiner Single-Bude, mit nichts in der Hand als meinem Blick auf die Welt. Was ich tat? Ich löste meine Lebensversicherung auf, verkaufte meinen Fernseher und fing an, ein Buch zu schreiben.
Job weg? Mann weg? Egal - improvisieren, ausprobieren, scheitern, aushalten
Um auf die Überraschungen des Lebens mit Eleganz reagieren zu können, braucht es eben eine kreative Herangehensweise: nämlich die Dinge unter Umständen ganz anders zu sehen als bisher. Flexibel und kreativ auf Gegebenheiten zu reagieren kann zu einer Lebenshaltung kultiviert werden. Einer Einstellung, die befähigt, selbst schwere Zeiten nicht mit eingezogenem Kopf zu überleben, sondern mit Bravour zu meistern. Kreativität ist in diesem anspruchsvollem Unterfangen eine Schlüsselfähigkeit. Aus Krisen lassen sich neue Perspektiven gewinnen, weil man nie mehr über sich und die Welt erfährt, als wenn einem beispielsweise das Herz gebrochen wird oder der Job genommen wird. Man muss improvisieren, ausprobieren, die Unsicherheit des Unbekannten aushalten und manchmal, ja, auch das: scheitern.
Lieblingssatz: „Damit dealen wir dann...“
Ich habe eine Freundin, die jahrelang zu den besten Werbetexterinnen Deutschlands zählte. Dann entschied sie sich, aufzuhören, weil das, was sie tat, sie nicht glücklich machte. Sie riskierte ihr Ansehen und ihre finanzielle Sicherheit, öffnete den ersten Coaching-Laden Deutschlands und wurde damit nicht nur wesentlich zufriedener, sondern auch erfolgreich. Was ich sagen will, ist, dass man sich mutig der Möglichkeit stellen muss, dass auch schiefgehen kann, was man sich so ausdenkt. Ich bin auch nicht sicher, ob es schlau war, sämtliche Jobs abzulehnen und mich für ein halbes Jahr zurückzuziehen, um ein Buch zu schreiben, vielleicht wird es kein Mensch lesen wollen, aber das sehen wir dann. Meine Freundin Miri hat einen Lieblingssatz, den sie, egal welche Sorgen sie in Anbetracht einer ungewissen Zukunft oder eines Projektes hat, stets mit Zuversicht verkündet: „Damit dealen wir dann.“ Diese Kraft, mit Dingen umzugehen, wenn sie dran sind, darauf zu vertrauen, dass sich Alternativen, Lösungen und Leute finden, die einem unterstützen, hilft enorm.
Sich den Umständen anzupassen – das ist wahre Kreativität
Wer kreativ auf alles, was ihm widerfährt, reagiert, besitzt nämlich die Fähigkeit, sich den Umständen anzupassen, nicht aus Angst oder Konformismus, sondern aus dem Wissen heraus, dass es Sinn macht, mitzuschwingen mit dieser sich so rasant verändernden Welt. Die man sich selbst und seinen Kindern erklären muss, und in der es täglich gilt, das Wesentliche aus dem Unwesentlichen herauszusieben. Seine Sehnsüchte zu kennen, sie im Auge zu behalten, ohne dabei zu erstarren. Darin schlummern so viele Möglichkeiten, liegt so viel Spiel für Entwicklung, vor allem, wenn die neuen Gegebenheiten unbequem sind. Dieser Wandel ist ein kreativer Prozess, der dabei hilft, zu reflektieren, ob wir die Frau
geworden sind, die wir immer sein wollten. Und, falls nicht, sofort etwas daran zu ändern, koste es, was es wolle!
Riskieren, Fehler zu machen
Wir müssen riskieren, auf unserem Weg Fehler zu machen, falsche Männer und Entscheidungen zu treffen, umzufallen, umzukehren und zu erkennen, dass es nicht immer die Umwelt ist, die uns im Weg steht. Häufig sind wir selbst unser größtes Hindernis, mit unseren Schranken und Glaubenssätzen im Hirn. Eigene Ideen werden schon als Blödsinn abgetan, bevor sie zu Papier gebracht und ausprobiert sind. Beim Schreiben nutze ich da einen Trick: Ich verbiete mir strikt, im Dokument nach oben zu scrollen, bevor ich nicht alles ausgespuckt habe. Man muss sich gestatten, frei zu denken, was man denkt, das Unerhörte und Unmögliche, ohne Schere im Kopf und Eltern auf den Schultern, die einem zuflüstern: „Aber das macht man doch nicht!“ Sonst werden die kostbaren Chancen schon im Entstehen gekillt. Dieser Trick lässt sich auf beinahe alles im Leben anwenden. Er braucht nur ein wenig Courage.