Dass Jüngere viel von Älteren lernen können, ist so die gängige Annahme. Aber wie sieht es eigentlich umgekehrt aus? Unsere Kollegin, selbst Anfang 20, ist klar der Meinung: Jüngere Menschen sind heute so viel ehrlicher als Generationen vor ihnen. Und findet, dass Ältere sich ruhig etwas davon abschauen könnten. Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit, egal wo man im Leben gerade steht.
Ohne jeden Zweifel kann man sich von Kolleg:innen, Familienmitgliedern und anderen Weggefährt:innen mit mehr Lebenserfahrung viel abschauen – und sollte das auch tun. Im Umkehrschluss bedeutet das aber nicht, dass man von jungen Menschen nichts lernen kann. Im Gegenteil.
Darüber, wie die Generation Z mit ihren neuen Job-Ansprüchen gerade die Arbeitswelt auf den Kopf stellt, wurde in den vergangenen Monaten schon viel berichtet – Stichwort Quiet Quitting. Aber nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch privat können ältere von jüngeren Menschen noch viel lernen, finde ich. Zum Beispiel in puncto Offenheit.
"Darüber spricht man nicht" – warum denn bitte nicht?
Kindermund tut Wahrheit kund, heißt es. Aber auch 20-somethings sind mindestens so knallhart in ihrer Ehrlichkeit. Treffen unter Freund:innen werden mit "Sorry, ich hab' vergessen, dass ich heute Therapie habe" abgesagt, über Geldprobleme oder Rückschläge im Job wird offen gesprochen – und über Beziehungskrisen sowieso. Die junge Generation etabliert gerade eine Ehrlichkeit, die lange mit dem Scheinargument "Darüber spricht man doch nicht" verhindert wurde. Und fragt völlig zu Recht: "Warum denn bitte nicht?"

Nicht nur im realen Leben ist Beschönigen längst out, auch auf Social Media setzt sich neben dem ewigen "Seht her, wie perfekt mein Leben ist"-Narrativ langsam eine Offenheit durch, die vor wenigen Jahren vermutlich noch als radikal gegolten hätte. So fragt eine Twitter-Userin ihre Follower: "Wie hoch ist euer Stundenlohn?" Ihre These: Darüber wird nur nicht offen gesprochen, damit die Schere zwischen sehr hohen und sehr niedrigen Löhnen nicht zu sehr hinterfragt wird. Sie kriegt hunderte Antworten von Menschen, die mir nichts, dir nichts ihr Gehalt preisgeben – keine Spur von "Darüber redet man nicht".
Krisen erfordern Ehrlichkeit
Warum ist besonders die Gen Z also so ehrlich im Austausch mit anderen und wehrt sich so vehement gegen die Schweigekultur, die so lange als Sitte galt? Einerseits mag natürlich das Verbundenheitsgefühl, das junge Menschen eben wegen ihres Alters teilen, ein Grund dafür sein. Sie sitzen alle im selben Boot, warum also nicht gleich die Karten auf den Tisch legen, damit der Erwartungsdruck auf sie alle schrumpft, anstatt den anderen weiszumachen, dass bei einem selbst alles glattläuft?
Aber ihre Aufrichtigkeit ist auch der aktuellen Situation geschuldet. In den vergangenen Krisenjahren wurden vor allem junge Menschen mit ihren Sorgen und Problemen fast gänzlich allein gelassen. Eine derartige Vernachlässigung bleibt nicht ohne Folgen. Die repräsentative Studie "Jugend in Deutschland" fand heraus: Jede:r vierte 14- bis 29-Jährige ist mit der eigenen psychischen Gesundheit unzufrieden, 16 Prozent von ihnen fühlen sich hilflos. Die beiden Autoren der Studie sind sich einig: "Die Kräfte der psychischen Abwehr sind bei vielen jungen Menschen verbraucht."
Jetzt fordert der Deutsche Ethikrat "nach den katastrophischen Erfahrungen der Pandemie" mehr Therapie- und Hilfsangebote für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Dass der Tatsache, dass es jungen Menschen immer schlechter geht, jetzt überhaupt Aufmerksamkeit geschenkt wird, liegt auch daran, dass sie das in der Vergangenheit eingefordert haben. Und kollektive Forderungen einer ganzen Generation sind eben nur dann möglich, wenn man sich innerhalb dieser Generation über seine Probleme austauschen kann. Ohne diese schonungslose Ehrlichkeit im Miteinander wären die Anliegen und Sorgen junger Menschen also vielleicht gänzlich übersehen worden.
Wir alle brauchen gerade Ehrlichkeit
Aber nicht nur junge Generationen stecken aktuell in der Krise. Die Inflation und die vielen Unsicherheiten und Nöte, die sie mit sich bringt, betreffen viele. Was bringt es jetzt noch, den Schein zu wahren und zu verbergen, dass man von den vielen Krisen genauso gebeutelt ist, ob finanziell oder psychisch, wie so viele andere? Wir alle könnten gerade ein bisschen mehr Ehrlichkeit im Umgang miteinander vertragen – um zu wissen, dass auch andere aus Frust oft unausgeglichen sind oder Angst vor der Zukunft haben. Um zu wissen, dass man nicht alleine ist mit seinen Sorgen. Genau diese Lektion ist es, die man aktuell von niemandem so gut lernen kann wie von jungen Menschen: Ehrlichkeit ist immer wichtig, aber in der Krise wird sie unverzichtbar.
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