Die Krise in der Ukraine ist allgegenwärtig, täglich erreicht uns eine Flut von Nachrichten aus den Kriegsgebieten. Mit der Psychologin Cora Besser-Siegmund haben wir über den achtsamen Umgang mit uns, unseren Sorgen, Ängsten und dem Gefühl der Hilflosigkeit gesprochen.
Im Fernsehen, im Radio, auf Social Media und bei Gesprächen mit Familie und Freund:innen werden wir immer wieder mit Putins Angriffskrieg in der Ukraine konfrontiert. Für viele Menschen beginnt der Tag mit Live News aus den Kriegsgebieten. Das ist belastend. Gleichzeitig geht das Leben weiter und wir erleben auch viele schöne Dinge. Doch dann bleibt oft ein Schuldgefühl. Wie kommen wir zu einer guten Balance aus Newsbedürfnis und Selbstfürsorge? Und warum berührt uns diese Krise mehr als andere Kriege? Wie schaffen wir es, uns nicht in einem Strudel aus Angst vor einer nuklearen Katastrophe zu verlieren und dem Gefühl der Hilflosigkeit etwas entgegenzustellen? Die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Cora Besser-Siegmund hat Antworten sowie Tipps, wie wir kraftvoll durch die nächsten Wochen kommen und uns trotz der Pandemie nahe sein können.
EMOTION: Nach dem Schock der vergangenen Wochen sind die Nachrichten aus der Ukraine jetzt schon fester Bestandteil unseres Tages, wir registrieren sie und wollen informiert sein. Gleichzeitig geht das Leben weiter. Wie können wir uns ohne schlechtes Gewissen zwischendurch leicht fühlen?
Cora Besser-Siegmund: Viele Menschen haben momentan den Impuls, etwas zu tun, helfen zu wollen. Dabei ist es ganz wichtig zu realisieren, dass wir nur helfen können, wenn es uns selber gut geht. Das hört sich paradox an, aber es ist wichtig, dass wir schöne Dinge für uns tun und uns immer wieder seelisch und körperlich regenerieren. Man darf und sollte sogar weiterhin beispielsweise lustige Filme wie Mr. Bean schauen und sich mit Freund:innen treffen. Die Seele braucht einen Wechsel aus Aktivität und Regeneration. Viele Menschen trauen sich allerdings nicht, ein paar gute Stunden zu verbringen, weil sich das für sie fast schon wie Illoyalität gegenüber den Menschen in der Ukraine anfühlt.
Was können wir konkret gegen dieses Schuldgefühl tun?
Es ist wie mit den Sauerstoffmasken im Flugzeug: Viele wundern sich, warum wir im Ernstfall zuerst uns selbst die Maske aufsetzen und dann erst den Mitreisenden helfen sollen. Das ist doch ziemlich egoistisch, warum sollen wir den Kindern nicht zuerst helfen? Aber hinter der Helferkultur steht immer die Erkenntnis, dass diejenigen am besten helfen können, denen es selber gut geht. Das ist also gar kein Paradoxon, sondern wir sollten uns um unsere eigene Gesundheit umso mehr kümmern, je schwieriger es um uns herum wird. Gerade körperliche Aktivität tut gut, auch Tageslicht ist sehr wichtig. Aufgrund von Corona haben viele den Kontakt zu ihren Mitmenschen minimiert. Doch gerade in der jetzigen Situation ist es wichtig, andere Menschen zu treffen und nicht mit seinen Gedanken allein zu sein.
Bei vielen machen sich Ängste vor der Unberechenbarkeit Putins breit. Zudem scheint der Einsatz von Nuklearwaffen nicht ausgeschlossen zu sein. Wie können wir uns davor schützen, nicht in einen Strudel aus Sorgen und Befürchtungen zu geraten?
Dabei helfen vor allen Dingen Mental-Techniken. Haben wir beispielsweise das berühmt-berüchtigte Kopfkino, so kann es helfen, sich die Bilder ganz klein vorzustellen. So als würden wir sie durch ein umgedrehtes Fernglas betrachten. Wenn ganz viele Gedanken auf einmal kommen, können wir sie mit einem Farbfilter belegen. Wir können dann beispielsweise zu uns sagen: "Ich denke das weiter, aber ich denke es nur in Lila." Eine weitere Möglichkeit ist, sich keine bewegten Bilder vorzustellen, sondern ganz kleine Fotos daraus zu machen. Haben wir das Gefühl, die Gedanken kreisen, können wir uns überlegen, in welche Richtung sie kreisen und anschließend versuchen, sie andersherum zu denken. Dadurch wird der Gedankenkreislauf durchbrochen.
Denn das Gehirn schickt die Gedanken sowieso, wir können nicht nicht denken. Aber mit Mental-Techniken können wir sie mit etwas Abstand betrachten. Es gibt viele Bücher zu diesem Thema und es lohnt sich, sich damit auseinander zu setzen. Denn nicht nur in dieser Zeit ist das sogenannte Gedankenmanagement sinnvoll, sondern wir können es auch gut in anderen Situationen unseres Alltags anwenden.
Viele Menschen versuchen nun zu helfen, organisieren Spenden, Konvois, stellen Unterkünfte zur Verfügung und vieles mehr. Ist das auch ein Weg der Hilflosigkeit zu entfliehen?
Das ist sogar ein sehr guter Weg. Das Helfen und Spenden glücklich macht ist in der Psychologie allgemein bekannt. Menschen sind schwingungsfähige Wesen. Deshalb freuen wir uns, wenn wir merken, dass wir etwas tun, was einem anderen Menschen gut tut. Dadurch ist es tatsächlich eine schöne Möglichkeit zu helfen. Nicht nur um dem anderen etwas Gutes zu tun, sondern auch um die eigene Gefühlslage zu verbessern.
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Es fühlt sich für viele nicht richtig an, jetzt tanzen zu gehen oder in den Urlaub zu fahren, bei all dem Leid. Obwohl die meisten ein wenig Leichtigkeit und Zerstreuung nach der Pandemie sehr dringend brauchen – haben Sie Tipps, wie wir mit diesem Zwiespalt am besten umgehen können?
Es ist verständlich, dass vielen Menschen nicht nach Feiern zu Mute ist. Deutlich haben wir das beim diesjährigen Karneval gesehen. Wir müssen auch nicht ausgelassen feiern, sondern es geht darum, beisammen zu sein. Es ist wichtig, den Kontakt zu anderen Menschen zu suchen und nicht mit sich, seinen Gedanken und Gefühlen alleine zu Hause zu bleiben. Wenn uns gerade nicht zum Lachen zumute ist, wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind, dann ist das in Ordnung und adäquat. In der Psychologie nennen wir das "ereigniskorreliert".
Auch von Schlaf- und vor allem Einschlafproblemen berichten viele in den letzten Tagen (und auch schon während der Pandemie), gibt es da Hilfestellungen?
Das Gehirn beschäftigt sich gerne in der Nacht mit den zuletzt angebotenen Inhalten. Zwei Stunden vor dem Schlafengehen sollten wir daher auf Nachrichten und Inhalte verzichten, die uns aufwühlen. Es spricht nichts dagegen, Filme zu schauen. Sehr empfehlenswert sind Tierfilme oder Naturaufnahmen. Alles, was wir wahrnehmen, also Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken ist wie Nahrung für unser Gehirn. Und das Gehirn möchte ab und an etwas zu futtern bekommen, mit dem es sich wohlfühlt. Also am besten vor dem Schlafengehen ein bisschen Selfcare betreiben und Kräfte sammeln, um am nächsten Tag wieder bereit zu sein und helfen zu können.
Es gibt ja mittlerweile schon den Begriff "Doomscrolling", das exzessive Konsumieren von News und Social Media mit immer neuen schrecklichen Infos. Was macht das mit uns und wie kommen wir da raus?
Dieses Phänomen entsteht aus dem Gefühl heraus, dass wir das kontrollieren können, was dort gerade passiert. Das kann irgendwann zu einer Zwangsstörung führen, wenn wir denken: "Wenn ich immer nachschaue, was da gerade passiert, bekomme ich die Situation in den Griff."
Die jetzige Situation zeigt uns, dass wir Menschen mit unseren vielen technischen Möglichkeiten auch nicht alles beeinflussen können. Da hilft es, auf die Glücksforschung zu schauen. Wir können uns auf unser Umfeld konzentrieren und all die Dinge wertschätzen, die gut sind, denen wir aber oft gar keine Beachtung schenken, weil sie für uns selbstverständlich geworden sind. Als kleines Beispiel: Wir beide sitzen jetzt auch nicht hier und feiern, dass es warm und trocken ist. Doch gerade in Anbetracht der Krise können wir uns diesen Wert bewusst machen. Denn das ist zum Beispiel eine Sache, die für viele Menschen in der Ukraine gerade nicht selbstverständlich ist.
Dankbarkeit üben als Balance zu den Nachrichten von den schrecklichen Ereignissen?
Ja. Wir sollten versuchen uns auf das Positive zu konzentrieren. So viele Menschen engagieren sich und nehmen geflüchtete Menschen auf! Es ist wichtig zu realisieren, dass das was gerade passiert auch ein Stück Leben ist. So grausam sich das anhört. Wir verstehen plötzlich, dass nichts selbstverständlich ist. Wir haben es warm, können offen über die Situation in der Ukraine sprechen, den Krieg kritisieren. Diese Dinge wertzuschätzen ist auch eine Form der Kontrolle. Und eine viel bessere als zu versuchen, die Ereignisse in der Ukraine zu kontrollieren.
Also das kontrollieren, was wir beeinflussen können, und nicht versuchen das zu kontrollieren, was außerhalb unserer Macht steht?
Ja genau.
Dieser Krieg wird voraussichtlich noch eine Weile andauern. Welche Tipps und Tricks gibt es, um mental gestärkt durch die nächsten Wochen zu kommen?
So banal es klingt: Ein Rhythmus hilft. Rigide Verhaltenspläne hören sich sehr trocken an. Doch es ist wichtig, gesunde Rituale für sich zu finden. Beispielsweise zwei bis drei Stunden am Tag etwas für sich zu tun. Das kann ein gutes Gespräch sein, sich etwas Schönes anschauen, oder das Tageslicht genießen. Sonnenlicht macht glücklich und regt die Melatoninbildung an, sodass wir Abends gut einschlafen können. Es ist nicht verkehrt, sich mit dem Konflikt zu beschäftigen, wir brauchen das sogar, um die Ereignisse zu verarbeiten. Aber wir sollten konkrete Zeitfenster dafür wählen. Eine bewährte Methode sind die heiligen Plätze oder heiligen Zeitfenster. Als Familie, Paar oder WG legt man bestimmt Orte und Zeiten fest, in welchen nicht über aufwühlende Themen gesprochen wird. Zum Beispiel nicht im Bett oder beim Essen. Das kann auch unabhängig von der derzeitigen Krise hilfreich sein. Beispielsweise sollten wir nie mit einem Kind im Bett darüber sprechen, warum es keine Vokabeln gelernt hat. Das Bett sollte eine sichere Zone sein, die nicht emotional aufwühlend ist.
Was macht die Krise mit Kindern und wie können wir sie am Besten durch diese Zeit begleiten?
Wichtig ist, dass wir uns viel mit den Kindern beschäftigen und mit ihnen spielen. Auch sollten wir achtsam mit Medien umgehen, sowohl analog als auch digital. Kinder achten auf Erwachsene und nehmen sie als Vorbilder, daher ist es von großer Bedeutung, dass wir auf uns achten und unseren Stress managen und nicht nur denken "Mein armes Kind, was macht es durch".
So ganz kann man den Medienkonsum von Kindern nicht regulieren. Ab einem bestimmten Alter bekommen sie Nachrichten auch von Freund:innen mit. Wie können wir am besten mit ihnen darüber sprechen?
Natürlich ist es wichtig, darüber zu sprechen. Allerdings immer kindgerecht. Beispielsweise sollten wir nicht sagen: "Die bringen sich gegenseitig um", sondern "die sind ganz gemein zueinander". Wir sind nicht verpflichtet, alles haargenau so zu benennen, wie es passiert. Wir sollten immer in die Sprache der Kinder übersetzen. Satt "Krieg" könnten wir sagen: "Die haben ganz doll Streit".

Cora Besser-Siegmund ist Diplom-Psychologin, Psychotherapeutin und Entwicklerin der Methode wingwave-Coaching. Im Rahmen von verschiedenen Charity-Projekten des gemeinnützigen Vereines GNLC e.V. hat sich die Methode schon mehrfach als hilfreiche Psychosoziale Notversorgung bewährt. Derzeit organisiert der GNLC-Verein das Projekt "Ukraine Help", bei dem über 200 Coaches ab dem 15. März ehrenamtlich Lebensbewältigungs-Coachings für die geflüchteten Kinder und Erwachsenen anbieten.
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