"Es gibt kein Land, das Arbeit stärker und Vermögen geringer besteuert als Deutschland": Wie geht es gerechter?
16.10.2023
Silvi Feist
Wir leben im viertreichsten Land der Welt. Doch 17,3 Millionen Menschen sind bei uns offiziell von Armut bedroht, 2,8 Millionen davon Kinder. Sozialaktivistin Helena Steinhaus hat Ideen, wie es gerechter geht. Der erste Schritt: hinschauen!
Wenn man „Minimum“ im Duden nachschlägt, steht da als Definition: „geringstes, niedrigstes Maß“. In Deutschland wird das seit Jahren regelmäßig unterschritten – und zwar ausgerechnet beim Existenzminimum. Wer Arbeitslosengeld II, besser bekannt als Hartz IV, bezogen hat – 2022 waren das 449 Euro für Alleinstehende –, konnte mit Sanktionen belegt werden. Termin verpasst? Schon drohten 30 Prozent Abzüge für drei Monate, im schlimmsten Fall gab es gar kein Geld. Hartz IV ist im Januar vom Bürgergeld abgelöst worden: 502 Euro für Essen, Trinken, Körperpflege, Kleidung, Handyvertrag, Strom, Bus usw. – für alles, was man braucht. Und bitte etwas davon sparen, falls mal der Kühlschrank oder das Handy kaputtgehen.
"Menschen haben ein Recht auf echte Grundsicherung"
Miete und Heizkosten werden in einer Höhe, die das Amt für vertretbar hält, übernommen. Sanktionen gibt es weiter. Bereits 2015 hat Helena Steinhaus den Verein „Sanktionsfrei e.V.“ gegründet, der Rechtshilfe bei Sanktionen und anderen Leistungskürzungen anbietet oder sie mithilfe von Spenden ausgleicht. Denn die Sozialaktivistin ist erstens überzeugt: „Menschen haben ein
Recht auf echte Grundsicherung.“ Und zweitens: „Wir können ein Sozialsystem schaffen, das fair ist und Armut wirklich bekämpft, das ist nicht utopisch, sondern wichtig für unsere Demokratie.“
EMOTION: Das Statistische Bundesamt hat ermittelt, dass 2022 in Deutschland jede:r Fünfte arm oder armutsgefährdet war. Wann ist man arm, Frau Steinhaus?
Helena Steinhaus: Als armutsgefährdet gilt man bei uns, wenn man weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens hat. Bei Alleinlebenden sind das 1251 Euro im Monat, bei einem Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren sind es 2627 Euro.
Das Bürgergeld ist laut Ampelkoalition die wichtigste Sozialreform seit Jahren. Ein richtiger Schritt nach vorn?
Nein. Für die meisten fühlt sich das genauso an wie Hartz IV. Nach Berechnungen der Wohlfahrtsverbände müsste der Regelsatz mindestens 725 statt 502 Euro betragen und die Stromkosten zusätzlich übernommen werden, um wirksam gegen Armut zu sein. Allein der inflationäre Anstieg der Energiekosten! Und die Sanktionen sind zwar etwas entschärft worden, aber es gibt sie immer noch.
Helena Steinhaus
Wir können ein Sozialsystem schaffen, das Armut wirklich bekämpft
Das Geld für die Kindergrundsicherung ist von geplanten zwölf auf zwei Milliarden zusammengeschnurrt.
Die Kindergrundsicherung wird so an denen vorbeigehen, die sie am dringendsten brauchen. Es gibt bei uns 2,8 Millionen Kinder in Armut, bei zwei Millionen beziehen die Eltern Bürgergeld, oft alleinerziehende Mütter. Die Erleichterungen, von denen die FDP bereits jetzt spricht, kommen bei denen nicht an.
Warum?
Rein faktisch bekommen alle Kinder Kindergeld. Bei Kindern im Bürgergeld wird das aber mit dem Regelsatz verrechnet, auch der Kinderzuschlag gilt für sie nicht. Bis sechs Jahre gibt es 318 Euro, bis 13 Jahre 348 Euro und bis 17 Jahre 420 Euro. Und das Bildungs- und Teilhabegesetz ist so kompliziert, dass es kaum genutzt wird, zumal die Beträge dann oft nicht reichen.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn eine Mutter Geld für den Kindersportverein oder die Musikschule beantragt, bekommt sie 15 Euro im Monat, das reicht meist nicht aus und dann braucht das Kind ja auch noch Turnschuhe oder ein Musikinstrument.
Gerade werden händeringend Arbeitskräfte gesucht, auch in Jobs, für die man nicht top ausgebildet sein muss. Ist das eine Chance, aus der Armut rauszukommen?
Es ist nicht so, dass da 5,4 Millionen Leistungsberechtigte rumsitzen und denken, wann kann ich den nächsten Job ergreifen? Fast zwei Millionen davon sind Kinder; fast eine Million Menschen sind Aufstocker:innen, das heißt, die arbeiten voll, verdienen aber nicht genug und brauchen zusätzlich Bürgergeld. Es gibt alleinerziehende Mütter, die nur begrenzt arbeitsfähig sind, und es gibt gut 1,6 Millionen Menschen, die gar nicht arbeitsfähig sind. Außerdem passt nicht jeder Job zu jeder Lebenssituation. Jobs sollten für Menschen da sein und nicht die Menschen für die Jobs.
Helena Steinhaus
Es ist ein Mythos, dass sich Leute lieber auf die faule Haut legen und aushalten lassen
Für seinen Lebensunterhalt einen Job anzunehmen, für den man überqualifiziert ist oder der schlecht bezahlt ist, statt sich von der Gemeinschaft finanzieren zu lassen, ist nicht zumutbar?
Es ist ein Mythos, dass sich Leute lieber auf die faule Haut legen und aushalten lassen. Die allermeisten bemühen sich aktiv um Arbeit. Wenn man Leute zwingt, jeden noch so schlechten Job anzunehmen, nimmt man ihnen die Chance, sich richtig um ihre Zukunft zu kümmern. Vielleicht braucht jemand etwas Zeit, um sich eine Selbstständigkeit aufzubauen – Leute, die einer guten Arbeit nachgehen, sind glücklicher und bringen hinterher mehr Geld in die Steuerkassen.
Es gibt die Forderung nach dem Lohnabstandsgebot: Wer arbeitet, soll substanziell mehr Geld haben.
Das ist kein falscher Wunsch. Aber muss ich deshalb Menschen, die weniger haben als ich, noch weniger gönnen? Der Mindestlohn ist ja kein Naturgesetz, sondern eine politische Entscheidung. Selbst, wenn man voll arbeitet, reicht er angesichts von Mieten und Inflation kaum zum Leben. Der Paritätische Gesamtverband hat gewarnt, dass auch der neue Mindestlohn noch in die Altersarmut führt. Die Erhöhung auf 12,41 Euro im nächsten Jahr wird das nicht ändern.
Warum ist es so leicht, Arme gegen Arme auszuspielen?
Wer Angst vorm Abstieg hat, will sich abgrenzen. Wir hinterfragen nicht, wenn reiche Menschen Alkohol oder Zigarren kaufen, die haben das ja angeblich selbst erwirtschaftet. Aber wer Leistungen bezieht, soll „nicht von meinem Steuergeld“ Alkohol oder Zigaretten kaufen. Dass ungerechte Verteilungsmechanismen mit dafür sorgen, dass einige sehr viel und andere sehr wenig haben, wird nicht thematisiert. Arme haben keine Lobby, sie haben auch meist nicht die Energie und Ressourcen, sich zu organisieren. Auch das trägt zur sozialen Spaltung bei. Das ist ein Nährboden für Populismus, Rechtsextremismus und angeblich notwendige „Starke-Hand“-Lösungen. Das können wir schon heute in den USA, der Türkei, in Ungarn, Polen oder Russland sehen und bei uns wird der Ton immer schärfer.
Streitschrift für eine bessere Zukunft
„Es braucht nicht viel. Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair &armutsfest machen“ von Helena Steinhaus und Claudia Cornelsen (S. Fischer, 24€). Steinhaus, 36, war als Jugendliche selbst eine Zeit lang auf HartzIV angewiesen.
In Deutschland ist es verpönt, nach Reichtum zu streben. Selbst Friedrich Merz versteht sich als Mittelschicht.
Und wenn der nur Mittelschicht ist, kann es bei uns kaum echte Armut geben, oder? Wer finanzstark ist, hat Einfluss und eine Lobby, die letztendlich die Gesetze mit beeinflusst, das sieht man zum Beispiel beim Thema Erbschaftssteuer, das wieder diskutiert wird. Dabei geht es eben nicht darum „Oma ihr Häuschen“ zu besteuern, sondern es geht um die Vermögen von Reichen und Superreichen, oft sogenannte „Familienunternehmen“, die längst globale Konzerne sind. Viele sagen: Ich hab für mein Geld gearbeitet, es bereits versteuert – da ist es ungerecht, wenn das, was ich vererben möchte, erneut besteuert wird. Der Gedanke missversteht die Logik des Steuerkreislaufs. Alles Geld, das wir aus- und weitergeben wird „mehrfach versteuert“. Wenn ich von meinem versteuerten Lohn einen Latte Macchiato kaufe, zahle ich Mehrwertsteuer. In den Latte-Macchiato-Preis sind Miete, also Grundsteuer, Steuern für die Energiekosten, Lohnsteuern fürs Personal und noch mehr eingepreist. Ich kann nicht sagen: Mein Lohn wurde doch schon versteuert, deshalb zahle ich nur den Rohstoffpreis für den Kaffee und die Milch. Unser Staat ist ein Gemeinwohlbetrieb. Alles Geld, das er einnimmt, kann er im Sinn des Gemeinwohls wieder ausgeben. Es gibt übrigens kein Land der Welt, das Arbeit stärker und Vermögen geringer besteuert als Deutschland.
Wenn das Bürgergeld realistisch bei 725 Euro liegen müsste, plus Stromkosten, wo soll das Geld herkommen?
Erbschafts- und Vermögenssteuer sind Ansatzpunkte. Außerdem erlaubt sich Deutschland einiges an klimaschädlichen Subventionen, allein 14 Milliarden für das Dienstwagenprivileg, den Dieselbonus und die Pendlerpauschale. 12 Milliarden fließen über Steuerbefreiungen in den Flugverkehr ... Mit 725 Euro schwelgt niemand in Luxus, aber sie würden viele aus dem alltäglichen Überlebenskampf befreien, und das würde eine Menge Potenzial freisetzen.