Psychologin Marina Chernivsky vom Kompetenzzentrum der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland spricht im Interview über Antisemitismus in Deutschland und was man dagegen tun kann.
EMOTION: Frau Chernivsky, hat der Antisemitismus in Deutschland zugenommen?
Marina Chernivsky: Wir sprechen eher von Verdichtung. Das Phänomen ist sichtbarer geworden. Antisemitismus hat es in Deutschland immer gegeben, aber er stand nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Gleichzeitig zeigt die RIAS-Statistik eine Zunahme. Und die Qualität der Vorfälle verändert sich. Aus diffusen Haltungen werden Handlungen und es kommt immer häufiger zu direkten Angriffen.
Die wir nicht mehr übersehen können.
Ja. Zum einen, weil antisemitische Ressentiments immer häufiger offen ausgesprochen werden und die Schwelle Gewalt anzuwenden sinkt. Es trauen sich aber auch immer mehr Jüdinnen und Juden ihre Erfahrungen zu teilen.
Können Sie noch einmal erklären, was Antisemitismus genau bedeutet?
Vereinfacht könnte man sagen: Es ist zum einen eine diffuse Voreingenommenheit gegenüber Jüdinnen und Juden und zum anderen eine fixe Idee von jüdischer Macht oder Verschwörung. Hinzukommt eine fast obsessive „Kritik“ am Staat Israel und die Opfer werden heute zu Tätern erklärt. Ich gebe die Frage immer gern zurück: Was verstehen Sie unter Antisemitismus? Welche Gefühle und Gedanken verbinden Sie mit Juden?
Dieses Interview wurde im September 2018 im EMOTION Magazin veröffentlicht, also zeitlich vor dem versuchten Anschlag auf eine Synagoge in Halle.
Laut Studien ist Antisemitismus stark in Deutschland verwurzelt. Wie kann das sein, bei unserer Geschichte?
Das Ende des Nationalsozialismus bedeutete ja nicht, dass sich das Denken komplett gewandelt hätte. Antisemitismus als Ideologie wurde überwunden. Aber die tief verankerten Ressentiments wirken bis heute nach. Das Bild von Juden ist aufgeladen. Es gibt kaum ein tragfähiges Wissen über deutsch-jüdische Geschichte jenseits der Shoah, und vor allem so gut wie keins über die kontinuierliche Präsenz von Jüdinnen und Juden in der Gesellschaft. Die öffentliche Ächtung des Antisemitismus hat eine Ersatzerzählung hervorgebracht – eben über Israel oder den Nahostkonflikt.
"Wenn Kontakte fehlen, entstehen Fantasien."
Marina Chernivsky über #Antisemitismus in DeutschlandTweet
Es gibt mindestens 300 000 jüdische Deutsche, das heißt auch: Die meisten werden keine jüdischen Freunde, Nachbarn oder Kollegen haben.
Zahlenmäßig sind jüdische Menschen in Deutschland eine Minderheit. Wenn Kontakte fehlen, entstehen Fantasien. Das befeuert antisemitische Mythen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Es gibt ein bemerkenswertes Distanzverhältnis zu Juden und Jüdischem, trotz oder auch wegen der Geschichte. Die Begegnungen finden vor allem über Filme, Schulbücher oder den Schulunterricht statt. Wir brauchen ein Gegennarrativ: Jüdinnen und Juden als Nachbarn, Kollegen, lebende Menschen.
Hat die Distanz auch mit versteckten Schuldgefühlen und Scham zu tun?
Judenhass nicht trotz, sondern wegen des Holocausts ist der Hauptgrund für den sekundären Antisemitismus. Unterdrückte Schuld und die nicht verstandene Verstrickung der eigenen Familie führt auch bei jüngeren Menschen oft zu einer diffusen Wahrnehmung, die sich in Aversion und Aggression äußern kann, ohne dass sie wissen, woher das kommt.
Müssten sich Menschen also mehr mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigen, damit sich etwas ändert?
In unserer Arbeit haben wir die Aufgabe dort Einsicht zu wecken, wo die Abwehr überwiegt. Wir wollen nicht "nur" über die Formen von Antisemitismus referieren, sondern Brücken zu den Menschen schlagen – zu ihren Emotionen, Fragen und Abwehrreaktionen.
Wieso ist das so schwierig?
Die meisten wollen nicht wahrhaben, dass Antisemitismus immer noch existiert. Wir werden oft gefragt, ob das überhaupt noch ein Thema sei. Uns begegnet viel Augenrollen. Für Betroffene ist das hart, weil ihnen so die Solidarität verweigert wird. Im Moment gibt es neue Herausforderungen: Subtilere Formen werden überlagert durch offenen Hass und Gewaltbereitschaft. Es kommt von überall – aus migrantischen Communities wie aus der Mehrheitsgesellschaft.
Welche Hilfen wünschen Sie sich?
Dass es in der Bundesregierung nun einen Antisemitismusbeauftragten gibt, war ein erster Schritt. Problembewusstsein heißt nicht nur festzustellen, was schief läuft, sondern sich auch bewusst zu machen, dass wir alle Teil der Lösung sind. Auch die jüdische Zivilgesellschaft soll sich öfter und stärker zeigen. Wir tragen dazu bei, indem wir Gemeindestrukturen unterstützen, Schulen und Bildungseinrichtungen beraten, Diskurse mitgestalten. Wir alle können uns jeder Zeit gegen jede Form von Diskriminierung einsetzen.
Womit sollten wir anfangen?
Indem wir uns fragen, wie wir Minderheiten sehen, wo wir sie verorten, welche Beziehung wir zu Juden haben. Erst wer sich selbst reflektiert, wird Scham überwinden und sich zur Zivilcourage verpflichtet fühlen, wenn er Zeuge antisemitischer Angriffe wird.