Auch die Physiotherapie ist von Missbrauchsfällen betroffen. Stephanie Lange, Psychotherapeutin bei FrauenLeben e.V., gibt Tipps, wie man sich bei einem Missbrauch verhalten kann.
EMOTION: Frau Lange, was genau macht die Frauenberatungsstelle FrauenLeben e.V. Köln und was ist Ihr Job?
Stephanie Lange: Ich bin Psychotherapeutin und Mitarbeiterin der Frauenberatungsstelle FrauenLeben e.V. in Köln. Wir sind eine Frauenberatungsstelle und haben viermal pro Woche Sprechstunde. Da können Frauen einfach ohne Termin vorbeikommen, zu allen psychosozialen Fragen und Problemstellungen. Schwerpunkte sind Essstörungen, sexuelle Übergriffe, Trennung und Scheidung und häusliche Gewalt. Aber auch mit allen anderen Themen und Fragestellungen können Frauen zu uns kommen. Darüber hinaus bieten wir zu unterschiedlichen Themen Gruppen an, Selbsterfahrungsgruppen, therapeutische Gruppen, Gruppen zur Stärkung des Selbstwertgefühls. In einigen Fällen beraten wir auch etwas längerfristig. Bis zu fünf Termine sind die Regel.
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Wie kamen Sie mit den Übergriffen durch Physiotherapeuten in Berührung?
Eine Frau ist anonym in meine Sprechstunde gekommen. Sie war ganz verwirrt und hat von einer komischen Situation mit ihrem Physiotherapeuten berichtet. Sie wusste nicht, ob das ein sexueller Übergriff war oder nicht, denn eigentlich hätte sie einem Physiotherapeuten so etwas nicht zugetraut. Dieses Gefühl hat es für sie etwas schwierig gemacht, das einzuordnen. Und trotzdem hat sie gemerkt, dass sich etwas ganz unangenehm angefühlt hat und irgendwie sehr sonderbar war. Als sie dann genauer erzählte und anfing zu weinen, wurde uns beiden klar, dass sie sich eingestehen muss, dass es tatsächlich ein sexueller Übergriff war. Dann habe ich mit ihr überlegt, wie es ihr geht, was sie jetzt braucht, was sie tun möchte, und habe einen weiteren Termin mit ihr vereinbart.
Ein paar Tage später kam unabhängig davon eine weitere Frau, die etwas sehr Ähnliches erzählt hat. Da haben mir die Ohren geklingelt und ich dachte, so etwas habe ich doch gerade schon gehört! Die zweite Frau kam mit einer befreundeten Arbeitskollegin, die so etwas in derselben Praxis erlebt hatte. Und weil sie sich beide komisch und unwohl bei ihm gefühlt haben, sind sie darüber ins Gespräch gekommen. Sie sind gemeinsam in die Frauenberatungsstelle gekommen und durch Zufall bei mir gelandet. Als sie mir den Namen des Mannes nannten, stellte sich heraus, dass es tatsächlich derselbe war wie bei der ersten Ratsuchenden.
Was sind dann die nächsten Schritte, wie kann man dann weiter vorgehen?
Den Frauenberatungsstellen ist es immer sehr wichtig, zu schauen, was die jeweils betroffene Frau braucht. Alle haben ja ganz individuelle Bedürfnisse und wir möchten niemanden in eine bestimmte Richtung drängen. Eine der Frauen hat sich dazu entschieden, das nicht weiter zu verfolgen. Die beiden anderen Frauen wollten gerne eine Rechtsberatung in Anspruch nehmen und dann Anzeige erstatten.
Ohne Zeugen sind Übergriffe schwer zu beweisen. Es steht Aussage gegen Aussage.
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Können Sie auch da weiterhelfen?
In der Frauenberatungsstelle arbeitet alle vier Wochen ehrenamtlich eine Rechtsanwältin und bietet Erstberatung an. Den beiden Frauen habe ich einen Termin bei ihr gegeben, bewusst ohne sie in Verbindung zu bringen. Die Anwältin hat den Fall für aussichtsreich befunden. Das ist aber nicht die Regel. Wenn etwas in einem anonymen Setting passiert, unter vier Augen, ohne Zeugen, ist es sehr schwer zu beweisen. Meist steht Aussage gegen Aussage und die Chance, dass juristisch etwas dabei herumkommt, ist gering. Dadurch, dass drei Frauen die Erfahrung gemacht hatten, war die Chance größer, etwas zu erreichen.
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Welche anderen Stellen gibt es, an die sich Frauen dann wenden können?
Wenn es um Medizin oder Krankenhäuser geht, kann man sich immer an die Gleichstellungsbeauftragten wenden, die zumindest in allen größeren Krankenhäusern vorhanden sind. Wenn es im ambulanten Setting passiert oder durch Physiotherapeuten, würde ich immer eine Frauenberatungsstelle zurate ziehen. Sie sind bundesweit auf das Thema sexualisierte Übergriffe und sexualisierte Gewalt spezialisiert und können das gut einordnen und wissen, an wen man sich weiter wenden kann. Das sind anonyme, kostenfreie Beratungen.
Wie ist es für die beiden Frauen weitergegangen?
Es ist zu einer Gerichtsverhandlung gekommen. Der Täter wurde zu einer Geldstrafe von 1000 Euro verurteilt, hat aber die Zulassung behalten und darf weiter praktizieren. Die Verurteilung hatte keine weitreichenderen Konsequenzen für ihn. Wenn es weitere Beschwerden oder Anzeigen geben würde, würde er mehr auffallen. Dann wäre er bei den Behörden bereits bekannt, das ist schon mal ein Vorteil.
Weder das Gesundheitsamt noch der Deutsche Verband für Physiotherapie fühlte sich zuständig.
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Hatte die Sache sich damit erledigt?
Nein. Ich war zwar froh, dass die Frauen ihren Weg gehen und etwas erreichen konnten, aber ich habe viel darüber nachgedacht, wie es grundsätzlich für Betroffene weitergehen kann. Wo sie im Bereich der Physiotherapie Hilfe finden können und wie auch vonseiten derer für das Thema sensibilisiert wird. Ich habe mich also an den Deutschen Verband für Physiotherapie und das Gesundheitsamt gewandt und dort das Anliegen geschildert. Das Gesundheitsamt fühlte sich nicht zuständig. Sie könnten nur tätig werden, wenn die betroffene Frau Anzeige erstattet, wenn es zu einer Verurteilung käme oder zumindest ganz klar sei, um wen es sich handelt und wenn es eindeutige Beweise gebe. Der Verband für Physiotherapie bestritt, dass es so etwas überhaupt gebe, das hätten sie noch nie gehört. Sie zeigten überhaupt kein Interesse und haben sich sehr abwehrend verhalten. Sie seien nur dafür zuständig, die Physiotherapeuten gegenüber den Krankenkassen zu vertreten, zum Beispiel bei Abrechnungsschwierigkeiten.
Und?
Ich bin hartnäckig geblieben und habe weiter drauf gedrängt, dass das Thema doch irgendwo verortet sein muss und dass es ja sehr wichtig ist, dass es bei solchen Vorwürfen eine Anlaufstelle gibt. Auch für die Physiotherapeuten selbst ist es doch wichtig, dass so etwas geklärt werden kann!
Nach einer Weile wurde ich vom Verband in ein Gremium in Köln eingeladen. Dort, vor dem Vorstand, habe ich die Situation geschildert und den Wunsch geäußert, dass etwas passiert. Daraufhin durfte ich darüber einen Artikel für ihre Zeitung schreiben. Sie wollten dann gern noch die Ergänzung haben, dass Physiotherapeutinnen auch von Patienten übergriffig behandelt werden können, das kommt natürlich auch vor. Und dann ist es in einer guten Auflage bundesweit erschienen. Es hat die betroffenen Frauen sehr gefreut, dass sie damit nicht alleine stehen, sondern dass wir uns auch auf höherer Ebene noch mal für sie eingesetzt haben.
War es dann vorbei?
Ich hab die Geschichte später auf einer Tagung des Arbeitskreises Frauengesundheit bei einem Vortrag erzählt. Und ich habe mich mit den Physiotherapeutenschulen in Köln in Verbindung gesetzt. Es kamen kaum Rückmeldungen, nur eine Schule hat sich dazu bereiterklärt, mir eine Unterrichtseinheit zu dem Thema zu überlassen. Ich habe die Situation geschildert und auch die Vorteile aufgezeigt, die Physiotherapeuten haben, wenn sie sich mit der Thematik gut auskennen. Es geht schließlich nicht nur um mögliche sexuelle Übergriffe innerhalb der Behandlung, von welcher Seite auch immer, sondern tatsächlich auch oft darum, was passiert, wenn man von anderen Vorfällen erfährt oder wenn Patientinnen kommen, die im Vorfeld schon einmal sexuelle Übergriffe erlebt haben. Welche besonderen Bedürfnisse haben diese in einer Behandlung und wie können Physiotherapeuten sich korrekt verhalten, sodass keine Trigger ausgelöst werden? Und was können sie tun, wenn alte Dinge aufbrechen, an wen können sie sich wenden? Ich spreche jetzt vor allem männlich/weiblich, weil Übergriffe nahezu immer von Männern an Frauen stattfinden. Die Thematik ist auf mäßiges Interesse gestoßen und danach auch tatsächlich im Sande verlaufen, weil sich mein Arbeitsbereich kurz darauf geändert hat.
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Glauben Sie, es wäre gut, wenn das grundsätzlich an den Schulen für Physiotherapie oder in der Ausbildung übernommen würde? Brauchen wir mehr Sensibilisierung für dieses Thema?
Auf jeden Fall. Ich finde es dringend notwendig. Es ist total wichtig, dass es als Unterrichtsfach oder Einheit aufgenommen wird, denn es ist so ein brisantes Thema. Ich möchte den Physiotherapeuten gar nichts unterstellen, die allermeisten machen natürlich ihre Arbeit exzellent, aber es gibt so viele betroffene Frauen, die schon im Vorfeld Erfahrung mit Missbrauch gemacht haben, und für die eine körperliche Behandlung sehr aufwühlend sein kann. In der Ausbildung wird es natürlich auch rechtliche Themen geben, aber genau dieses Thema der sexuellen Übergriffe wird gar nicht thematisiert. Es ist ein absolutes Tabu.
Was könnte man als Physiotherapeut dann tun?
Manche Patientinnen können nicht am Hals am Bauch oder an der Leiste angefasst werden. Und manchmal muss man das ja tun als Physiotherapeut. Dann ist es wirklich wichtig, dass man weiß, wie man damit umgeht. Vielleicht nimmt man eine Arzthelferin mit dazu oder spricht man das Thema an und fragt bei jedem Schritt, ob er in Ordnung ist. Und auch: Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn es Ihnen nicht recht ist. Man muss das gut erklären, transparent sein und Grenzen respektieren.
Wir denken immer: So etwas passiert woanders, nicht bei uns, nicht in so einem geschützten Rahmen.
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Warum, glauben Sie, gibt es so viel Widerstand von der Seite?
Ich glaube, einerseits wird das Thema immer öffentlicher, andererseits ist und bleibt es ein Tabu. Nicht zuletzt seit #MeToo ist das Bewusstsein für diese Dinge größer geworden, aber trotzdem wird immer davon ausgegangen, dass so etwas woanders passiert, nicht bei uns, nicht in unserem Kreis. Und Physiotherapeuten und -therapeutinnen sind ja Menschen, die einen helfenden Beruf gewählt haben, da passt es nicht zu dem Selbstbild. Viele leugnen, dass es in so einem geschützten Rahmen passieren kann. Und wenn das Thema aufgegriffen werden würde, müssten sich ja alle fragen: Wie gehe ich persönlich eigentlich mit Grenzen um? Wie mache ich so etwas privat und auch beruflich? Diese Konfrontation mit dem eigenen Verhalten ist schwierig.