2018 haben wir großartige Bücher gelesen: diese 30 sind unsere Lieblingsbücher des Jahres. Gut zum Verschenken oder Selberlesen.
Zum Selberlesen und Verschenken: die besten Bücher 2018
Wenn wir bei EMOTION nicht schreiben, dann lesen wir. Und über die Bücher, die uns besonders gut gefallen, schreiben wir dann. In jedem Heft stellen wir Ihnen sechs oder sieben Romane vor (und jede Menge Sachbücher), drei mal im Jahr stellen wir für Sie ein Buch-Special mit mehr als 30 Büchern zusammen. Das hier sind unsere Lieblingsbücher 2018. Zum Selberlesen und zum Verschenken!
Bücher für den Herbst 2019: Diese Autorinnen muss man jetzt lesen
Meg Wolitzer: Das weibliche Prinzip
In Amerika kam Meg Wolitzers neues Buch kurz nach dem Harvey-Weinstein-Skandal raus. Und es beginnt auch mit einer #metoo-Szene: Greer Kadetsky wird von einem Mitstudenten begrapscht. Sie ist nicht die Einzige. Der Junge muss zum Therapeuten, darf aber an der Uni bleiben. Greer ist wütend. Auf einer Veranstaltung lernt sie die Frauenrechtlerin Faith Frank kennen, die ihre Mentorin wird. Und aus der schüchternen Studentin wird eine mutige Frau, die eigene Überzeugungen entwickelt und schmerzhaft erfährt, welche Konsequenzen das hat. Dieses Buch ist keine simple Erklärung unserer Zeit, aber es geht um Macht und Emanzipation, um Liebe und Freundschaft und ums Erwachsenwerden. Und es fragt: Wer willst du sein? Miriam Böndel
Meg Wolitzer: Das weibliche Prinzip, Dumont, 24 €.
EMOTION traf Meg Wolitzer zum Gespräch über ihr Buch "Das weibliche Prinzip". Hier geht es zum Interview.
Bild: DuMont
Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann
Mariana Leky schreibt, als hätte sie sich jedes Wort neu ausgedacht und dann daraus mal kichernd, mal sanft Sätze gebaut. Die Bewohner und Dinge in ihrem Buch bilden ein eigenes Universum, das über unserem zu schweben scheint. Staunend erkennt man von da oben, wie seltsam wir Menschen doch sind und wie sehr wir einander brauchen. Alle, die in dem kleinen Dorf im Westerwald leben, in dem der Roman spielt, ringen mit der Liebe. Besonders Luise, die für die anderen immer verschwommen aussieht, wenn sie nicht zu ihren Gefühlen steht. Luise lebt bei ihrer Oma Selma und dem Optiker (der freundlichste Mann, dem ich je in einem Buch begegnet bin). Heimlich liebt der Optiker Selma, die Seele des Dorfs. Sie wohnt in einem schiefen Haus, sieht aus wie Rudi Carrell und ist verrückt nach Mon Cheri. In ihrem Schlafzimmer steht ein Reisewecker, der nie auf Reisen war. Er tickt laut, um auf sein verpfuschtes Leben aufmerksam zu machen. „Ihr müsst mehr Welt reinlassen“, sagt Luises Vater, aber die Menschen haben genug mit sich selbst und ihren Ängsten zu tun. Erst als ein junger Buddhist im Dorf auftaucht, spürt Luise, was ihr Vater meint. „Es geht im Buddhismus um das Aufgeben von Kontrolle“, streicht der Optiker in einem seiner Bücher an. Und tatsächlich: Je mehr Luise die Kontrolle über ihre zurückgehaltenen Gefühle aufgibt, desto mehr gewinnt sie an Kontur. Ein zauberhafter Roman mit Verwandlungsfähigkeiten. Andrea Huss
Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann, Dumont, 20 €
Bild: DuMont
Lisa Jewell: Der Fremde am Strand
Am Strand hinter ihrem Cottage in Ridinghouse Bay liest die alleinerziehende Alice einen Unbekannten auf, der sich an nichts erinnert. Ist es derselbe Mann, der zeitgleich in London von seiner frischgebackenen Ehefrau vermisst gemeldet wird? Seine Erinnerung, die die drei in sich geschlossenen Handlungsstränge wie ein Puzzle zusammenführt, lässt vermuten, dass der mysteriöse Unbekannte in ein tragisches Ereignis verwickelt ist, das sich vor 22 Jahren an genau diesem Strand zugetragen hat. Bis zum letzten Satz hält Lisa Jewell die Spannung. Teilweise liest sich ihr geschickt konstruierter Roman wie ein Psychothriller. Und ich wollte so dringend wissen, wie die Geschichte in meinem Lieblingserzählstrang weitergeht, dass ich gar nicht anders konnte, als umzublättern und umzublättern. Jessica Benjatschek
Lisa Jewell: Der Fremde am Strand, Limes, 15 €
Bild: Limes
Karl Geary: Montpelier Parade
Karl Geary war 15, als er 1987 ohne Arbeitsvisum von Dublin nach New York auswanderte und zwei Jahre später im East Village die Bar "Siné" miteröffnete, wo Jeff Buckley seine Karriere startete und Sinéad O’Connor mal eben so auftrat. Er taucht in Madonnas berüchtigtem Buch "Sex" auf, arbeitet als Schauspieler (unter anderem eine kleine Rolle in "Sex and the City") und hat jetzt einen wunderschönen ersten Roman geschrieben – in dem sich der 16-jährige Sonny im Dublin der 80er-Jahre nach einem anderen Leben sehnt ... Sonny ist ein sensibler Junge, der jüngste von sieben Söhnen einer Arbeiterfamilie, der nach der Schule beim Metzger arbeitet (wo seine Mutter auf eine Lehrstelle für ihn hofft). Als er seinen Vater zu einem Job in einem besseren Teil der Stadt begleitet, begegnet ihm Vera, eine schöne und weltgewandte Engländerin, alt genug, um seine Mutter zu sein. Und Sonny bekommt eine Ahnung, was sein könnte. Ein Debuüt, durchzogen von einer zarten Melancholie, die glücklich macht. Ein Autor, von dem ich unbedingt mehr lesen will. Silvia Feist
Karl Geary: Montpelier Parade, Rowohlt hundert Augen, 20 €
Bild: rowohlt
Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore – Band 1
Die surrealen Welten und der melancholische Ton von Murakami ziehen mich schon immer an. Auch dieses Mal würde ich gern mit dem namenlosen Erzähler, einem Maler, in seinen klapprigen Peugeot 205 steigen, um ziellos durch Japan zu irren. Nachdem seine Frau ihn verlassen hat, hadert er mit dem Leben und der Kunst. Zuflucht findet er in einem einsamen, alten Haus in den Bergen. Doch als er auf dem Dachboden ein altes Gemälde entdeckt, gerät die Realität plötzlich aus den Fugen: Glöckchen klingen in einem verlassenen Grab, ein Mann ohne Gesicht verlangt sein Porträt und ein Geist steigt aus dem Bilderrahmen. Die Ereignisse überschlagen sich, aber Murakami erzählt wie in Zeitlupe. Immer wieder frage ich mich: Was ist Traum, was Wirklichkeit? Der auf zwei Bände angelegte Roman enthält all das, was ich an Murakami liebe. Neu ist jedoch, dass die Geschichte tief in die dunkelsten Winkel einer Künstlerseele blicken lässt. Vieles, was er über den Maler schreibt, wird auch auf den Schriftsteller selbst zutreffen. So ist es die Geschichte einer künstlerischen Selbstfindung – und Murakamis persönlichster Roman. Janis Voss
Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore – Band 1, Dumont, 26 €
Bild: Dumont
Gabriel Tallent: Mein Ein und Alles
Nach seinem Studium führte Gabriel Tallent Jugendliche durch die Wälder der USA. Ob ihm dabei die Idee zu diesem Roman gekommen ist? Darin erzählt er nämlich von Turtle Alveston, einem 14-jährigen Mädchen, das abgeschieden in der Wildnis Nordkaliforniens aufwächst. Im Wald kennt sie jede Pflanze, jedes Tier. Und dorthin flieht sie vor ihrem Vater, den sie liebt und gleichzeitig hasst und fürchtet. Er hilft ihr bei den Hausaufgaben, lehrt sie schießen – und missbraucht sie in der Nacht ... Gabriel Tallent hält uns in seinem sprachgewaltigen Debüt jedes Detail so dicht vors innere Auge, dass es schmerzt. Man fühlt den Schmerz und die Zerrissenheit der Heldin und wendet atemlos die Seiten, in der Hoffnung, dass sie sich aus den Klauen des geliebten Monsters befreien kann. Was mir gefallen hat? Klar, die großartigen Beschreibungen der Natur. Aber vor allem die brutale Zartheit dieses Porträts, der Geschichte einer jungen Frau, die sich wehrt. Janis Voss
Gabriel Tallent: Mein Ein und Alles, Penguin, 24 €
Bild: Penguin Verlag
Francesca Melandri: Alle, außer mir
Ilara kann es nicht glauben: Vor ihrer Tür steht ein Junge und auf dessen Pass Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti steht. Atillo, genannt Attila Profeti ist ihr Vater. Der Junge ist allerdings schwarz. Geflohen aus Äthiopien. Seit drei Jahren unterwegs, durch die Wüste, über die Lager Libyens, gestrandet auf Lampedusa, sein Asylantrag zum zweiten Mal abgelehnt. Jetzt steht er also an ihrer Wohnungstür in Rom und behauptet, ihr Bruder zu sein. Es wäre nicht das erste Kind ihres Bigamisten-Vaters, von dem sie erst später erfährt. Aber was hat Atillo mit Äthiopien zu tun? Sehr viel, wie Ilara erfährt. 1935 träumte ihr Vater in Ostafrika vom Imperium Romanum. "Alle außer mir" ist Familiengeschichte und Gesellschaftsroman. Er erzählt von den Kolonien, vom faschistischen Italien und wie diese Strukturen bis heute nachwirken. Melandris Sprache ist trotzdem voller Poesie, nie urteilt sie über ihre Protagonisten. Ihre Direktheit ist schonungslos und fordert den Leser heraus, sich wirklich auf die Geschichte einzulassen. Miriam Böndel
Francesca Melandri: Alle, außer mir, Wagenbach, 26 €
Bild: Wagenbach
Deb Spera: Alligatoren
Deb Speras Debüt hat mich sofort mitgerissen. Auf jeder Seite atmet ihre Geschichte Südstaaten. Auf einer Plantage in South Carolina lässt sie drei ganz unterschiedliche Frauen aufeinandertreffen. Es ist das Jahr 1924. Am Horizont zieht bereits die Wirtschaftskrise auf und fordert auf den großen Plantagen mehr und mehr Opfer. Die Sklaverei ist seit fast sechzig Jahren abgeschafft, aber in den Köpfen von vielen längst nicht vorbei. Und auch für Frauen ist das Leben alles andere als einfach. Gertrude, eine verarmte Weiße, versucht, ihre vier Töchter und sich selbst vor ihrem Mann zu schützen, der erst trinkt und dann prügelt. Um ihre Kinder vor dem Verhungern zu bewahren, geht sie auf Alligatoren-Jagd. Die reiche Plantagenbesitzerin Annie droht daran zu zerbrechen, dass sich ihr jüngerer Sohn das Leben genommen hat. Die dritte im Bunde ist Oretta, Annies schwarze Haushälterin, die ihre einzige Tochter verloren hat … Das Leben bringt diese drei ganz unterschiedlichen Frauen zusammen. Wie sie allmählich ihre Kraft entdecken, setzt eine ungeheure Energie frei. Gerade durch Deb Speras unsentimentalen Ton ist mir die Geschichte richtig unter die Haut gekrochen. Zugegeben: keine Feel-Good-Geschichte, aber dafür umso stärker eine Feel-Strong-Geschichte! Annalena Lüder
Deb Spera, Alligatoren, HarperCollins, 22,00 €
Bild: HarperCollins
D.B. John: Stern des Nordens
Ein Thriller, der in Nordkorea spielt – klar, dass der auf meinem Tisch landet, als Krimifan und Schwiegertochter einer bezaubernden Südkoreanerin. Und ich war schnell begeistert von diesem Blockbuster in Buchform: Er erzählt von der couragierten Bäuerin Moon, dem zweifelnden Parteifunktionär Cho und der Halbkoreanerin Janna. Die wird 2010 angesichts nordkoreanischer Aggressionen von der CIA angeheuert, um in Kims Reich Informanten zu finden. Aber sie hat auch eine eigene Mission: ihre Zwillingsschwester wiederfinden, die einst von einem südkoreanischen Strand verschwand. Das alles ist so geschickt, spannend und glaubwürdig miteinander verwoben (wer weiß schon, was in Nordkorea wirklich passiert?), dass man jeder gelesenen Seite nachtrauert – und zugleich dem Finale entgegenfiebert. Christine Ritzenhoff
D.B. John: Stern des Nordens, Wunderlich, 16,99 €
Bild: wunderlich
Celeste Ng: Kleine Feuer überall
Auf den Straßen von Shaker Heights sieht man nie Müll, die Villen sind geschmackvoll aufeinander abgestimmt, die Schulen zählen zu den besten der USA. In diesem Utopia der Bildungselite ist Celeste Ng als Tochter chinesischer Immigranten aufgewachsen. Und hier legt sie in ihrem zweiten Roman wortwörtlich "Kleine Feuer überall". Ihre Story beginnt mit dem brennenden Haus der Familie Richardson, angezündet von der jüngsten Tochter. Mutter Elena steht im Bademantel davor und erinnert sich: An den Tag, als die Künstlerin Mia in die Vorstadt kam, mit ihrer Tochter und nur ein paar Koffern im Gepäck. Die Einzelgängerin wirbelt die geordnete Welt der Richardsons durcheinander. "Shaker Heights war ein Ort, an dem man anderen nie seine schmutzige Seite zeigte", schreibt Celeste Ng. Naürlich bringt sie in ihrem Roman nach und nach alles ans Licht: die Engstirnigkeit der Mittelschicht und die verdrängten Sehnsüchte von Töchtern und Müttern, die alles besitzen außer echte Selbstbestimmung. Andrea Huss
Celeste Ng: Kleine Feuer überall, dtv, 22 €
Bild: dtv
Anne Reinecke: Leinsee
Karl versucht sich als Künstler einen Namen zu machen, kommt aber nicht aus dem Schatten seiner Eltern heraus, den berühmten Bildhauern Stiegenhauer. Und das, obwohl er bereits vor Jahren den Kontakt zu ihnen abgebrochen hat, weil ihre Liebe zueinander und zur Kunst immer wichtiger war als er. Jetzt führt ihn ein tragisches Ereignis zurück in sein Elternhaus. Bald freundet er sich mit dem kleinen Nachbarsmädchen Tanja an, das ihm unerwartet Halt gibt. Er entschließt sich zu bleiben. Wie Karl sich langsam freischwimmt, habe ich gebannt verfolgt und das Buch erst am Ende wieder zuklappen können. Es liest sich federleicht, hat aber Tiefgang! "Leinsee" ist eine Coming-of-age-Geschichte und eine unvorhersehbare Liebesgeschichte – so schön geschrieben, dass ich fest die Daumen drücke für den Debütpreis der litCologne 2018 (Anm.d.Red. Den Preis hat dann Takis Würger für das Buch "Der Club" gewonnen, das wir auch sehr gut fanden.) Lea Schulze
Anne Reinecke: Leinsee, Diogenes, 24 €
Bild: Diogenes
A. J. Finn: The Woman in the Window
"Eigentlich wollte ich mal wieder was richtig Vielschichtiges lesen", dachte ich, als ich halbherzig diesen Thriller aufschlug. Drei Seiten später war ich hoffnungslos gefesselt. Nicht etwa vor Spannung – die entwickelt sich erst viel später. Sondern von Anna, einer Psychotherapeutin, die an Agoraphobie leidet. Seit bald einem Jahr traut sich Anna Fox nicht mehr nach draußen, längst ist sie dem Merlot verfallen. Wie lange können ein Kater und eine, wenn auch hochkarätige, Sammlung von Schwarz-Weiß-Filmen eine Frau schon beschäftigen? Dann ist da noch ihre Nikon, mit der man so schön die Nachbarn in den umliegenden Häusern beobachten kann. In den eigenen Wänden gefangen, ist der Blick in fremde Zimmer ein attraktiver Zeitvertreib – bis Anna einen Mord beobachtet und niemand ihr glaubt. Mehr verrate ich nicht. Nur so viel: A. J. Finn schreibt ein herausragendes Profil von Anna und ihrer Krankheit: detailliert, feinfühlig, wissend. Und er komponiert Spannung, als spielte im Hintergrund leise bedrohliche Filmmusik. Das ist berührend, intelligent, überraschend – und faszinierend vielschichtig. Kristina Appel
A. J. Finn: The Woman in the Window, Blanvalet, 15 €
Bild: blanvalet
Paolo Giordano: Den Himmel stürmen
Paolo Giordano war gerade 26 Jahre alt, als er vor neun Jahren mit seinem Debüt „Die Einsamkeit der Primzahlen“ den Literaturhimmel gestürmt hat. Dass das kein Zufallstreffer war, beweist sein neuer Roman. In ihm begleitet er die vier Protagonisten vom späten Teeniealter ins Erwachsenenleben. Teresa, ein Mädchen aus gutem Turiner Hause, lernt in einem der Sommer, die sie bei ihrer Großmutter in Süditalien verbringt, den Jungen Bern und seine – wenn auch nicht leiblichen – Brüder Nicola und Tommaso kennen. Die Jugendlichen führen ein freies, naturnahes Leben auf einem Hof, der von Nicolas Vater Cesare geleitet wird. Einen Sommer lang erlebt Teresa mit Bern eine leidenschaftliche erste Liebe, im nächsten Sommer ist er weg. Was bleibt, ist das Gerede, er habe ein Mädchen geschwängert. Als Teresa Bern bei der Beerdigung ihrer Oma wieder trifft, beschließt sie, sich der Hofkommune anzuschließen, die Bern mittlerweile mit ein paar anderen auf Cesares Grund betreibt. Endlich scheinen er und Teresa ihr Glück gefunden zu haben. Warum sich die beiden trotzdem ein zweites Mal verlieren, ob sie sich wiederfinden und wie sich die Schicksale der Brüder tragisch kreuzen, erzählt Giordano mit so viel Empathie und Leidenschaft, dass man durch die gut 500 Seiten durchstürmen möchte. Katharina Wantoch
Paolo Giordano: Den Himmel stürmen, Rowohlt, 22 €
Bild: Rowohlt
Sarah Perry: Die Schlange von Essex
Nirgendwo finden sich beeindruckendere Ungeheuer als in britischen Gewässern. Wie ihre Kollegin Nessi lässt sich zwar auch "Die Schlange von Essex" eher selten blicken, die Bewohner des Küstenstädtchens Aldwinter sind 1893 trotzdem davon überzeugt, dass es das Untier auf sie abgesehen hat – auch wenn der vernunftbegabte Vikar William Ransome versucht, ihnen dieses Hirngespinst auszutreiben. Wenig hilfreich findet er die Ankunft der jungen Witwe Cora Seaborne, die als Darwin-Anhängerin überzeugt ist, dass der mörderische Lindwurm eine unbekannte Tierart ist. Wie es so geht: Cora und William finden sich erst scheußlich, dann anziehend, bald wollen sie ihre Streitgespräche über Wissenschaft versus Religion nicht mehr missen. Und die Schlange lauert weiter im dunklen Wasser ... Sarah Perrys Roman ist nicht aus dem üblichen Historien-Sud aufgegossen und sein Blick auf die viktorianische Gesellschaft, in der der Glaube an die Wissenschaft mit dem an höhere Mächte kämpft, wirkt in unseren postfaktischen Zeiten überraschend modern. Mitreißend, klug, leidenschaftlich: Ein Schatz von einem Buch. Andrea Benda
Sarah Perry: Die Schlange von Essex, Eichborn, 24 €
Bild: Eichborn
Bettina Wilpert: Nichts, was uns passiert
Es gibt diese Bücher, die sind nicht besonders lang und erzählen keine besondere Geschichte, aber sie bleiben lange in dir. So ein Buch ist dieses. Ein wichtiges Buch, denn in der #metoo-Debatte, die auf die Frage „Wo beginnt sexueller Missbrauch?“ keine allgemeingültige Antwort findet, hilft es all denjenigen, die glauben, dass es diese Antwort so klar nicht geben wird, sondern dass wir uns immer wieder und in jedem Fall neu an ihr abarbeiten müssen. Wie in diesem hier: Anna sagt, sie ist vergewaltigt worden. Jonas sagt, sie hatten Sex. Das Vertrackte: Aus ihrer Sicht haben beide recht. Man hatte früher schon mal einen One-Night-Stand, man war zur Besinnungslosigkeit betrunken, es gab keine Gewalt. Und doch war es Gewalt. Wie Annas Seele und Jonas‘ Zukunft nun vollständig aus den Fugen geraten, samt Freundeskreis und Familie, hat Wilpert in der Art eines Protokoll der Aussagen aller Beteiligten einfach und ohne Wertung, aber mit starkem Sog aufgeschrieben – ein so banales wie komplexes Drama, das nur Verlierer kennt. Christine Ellinghaus
Bettina Wilpert: Nichts, was uns passiert,Verbrecher, 19 €
Bild: Verbrecher Verlag
Nina Lykke: Aufruhr in mittleren Jahren
Neulich sagte mir ein Freund: "Ich weiß, ich entspreche voll dem Klischee, aber ich fühle mich so lebendig dabei." Kurz vor seinem 50. hatte er Frau und Söhne für eine 15 Jahre jüngere Kollegin verlassen. Tatsächlich ist das ziemlich genau der Plot von Nina Lykkes böser (und sehr gut geschriebener!) Gesellschaftssatire: Die Norwegerin nimmt die Schablonen von verlassener Frau, junger Geliebter und Mann in der Midlife-Crisis und füllt sie mit Gedanken zum Zustand der weißen Bildungsbürger-Wohlstandswelt. In Oslo ist die kaum anders als in Hamburg oder Amsterdam: Die Menschen in mittleren Jahren ersticken in Routine und fühlen sich innerlich leer. Die Jüngeren sehnen sich nach Bindung und haben zugleich Angst davor. Und die Alten schlurfen einsam durch Fußgängerzonen oder verpulvern ihre Rente auf Kulturreisen. Lykke fragt: Wollen wir wirklich so leben? Stellvertretend für alle Desillusionierten schickt sie die verlassene Ehefrau auf Sinnsuche. Als Leserin trägt einen dieser Aufbruch gedanklich ganz schön weit – weg vom Mithaltenwollen bei den Angepassten und Gehetzten, hin zum inneren Rebellentum. Andrea Huss
Nina Lykke: Aufruhr in mittleren Jahren, Nagel & Kimche, 20 €
Bild: Nagel & Kimche
Naomi Alderman: Die Gabe
Naomi Aldermans Roman hat mich wieder daran erinnert, warum ich als Teenager Stephen-King-Romanen verfallen war. Ich war besessen von den kleinen Verschiebungen, die der Katastrophe vorangehen, bis das Dorf in Flammen steht. Die britische Autorin setzt in "Die Gabe" die ganze Welt in Brand, aber am Beginn ihrer feministischen Dystopie stehen Verschiebungen, bei denen ich mich wie damals bei King gefragt habe: Was würde ich tun? Wie würde ich mit der Gabe umgehen, über die erst alle weiblichen Teenager, später dann fast alle Frauen verfügen? Sie können mit ihren Händen Stromschläge verteilen. Und tun dies auch. Erst spielerisch-verlegen, dann strategisch, bald schon verletzend und tödlich. Die männliche Welt und deren scheinbar unverrückbare Dominanz bröckeln, Frauen rächen sich, errichten Kulte und Reiche. Alderman dreht die Verhältnisse radikal und brutal um, erzählt schnell und filmisch. Ihre große Frage (keine unheikle für ein Frauenmagazin!) hat mich seit der Lektüre nicht mehr losgelassen: Was würden Frauen mit Macht machen? Julia Möhn
Naomi Alderman: Die Gabe, Heyne, 16,99 €
Bild: Heyne
Kate Tempest: Sollen sie doch Chaos fressen
Kate Tempest, bürgerlich Calvert, ist, wie ihr Bühnenname: eine Naturgewalt. Ich weiß, groß eingeschenkt. Aber sie haut nicht nur mich (erneut) um. Die 32-jährige Londonerin überzeugt die Jury des renommiertesten britischen Lyrik-Preises ebenso wie meinen 24-jährigen Stiefsohn, der sich, obwohl seine Arbeitsklamotten im Waschsalon fertig waren, nicht von der Performance ihres neuen Langgedichts „Sollen sie doch Chaos fressen“ auf Youtube losreißen konnte. Da geht es um die Welt – und um fünf Frauen und zwei Männer, die um 4.18 Uhr morgens in London hellwach sind. Mit soghaften Rhythmus zieht Tempest in das Leben der sieben hinein, in ihre Sorgen und Sehnsüchte. Als im Morgengrauen ein Sturm losbricht, treten sie vor die Tür und teilen unerwartet einen Moment und Tempests lyrisches Ich schreit „die Menschen an, die ich liebe/ wacht auf und liebt mehr.“ Am besten erst lesen, auf Englisch oder die gelungene Nachdichtung von Johanna Davids, und dann auf Youtube „Let Them Eat Chaos“ schauen und mitreißen lassen. Silvia Feist
Kate Tempest: Sollen sie doch Chaos fressen, Suhrkamp, 15 €
Helene Hegemann: Bungalow
In die Geschichte von Helene Hegemann wird man einfach reingeworfen. Die Sätze springen von hier nach da, doch was sich bei "Axolotl Roadkill" noch nach Chaos angefühlt hat, ist zu einem literarischen Stil gereift. Bis zum Schluss weiß man nicht, in welcher Zeit "Bungalow" spielt. Irgendwann nach uns und vor einem Krieg, dazwischen kam es zu einer Umweltkatastrophe. Die Gesellschaft scheint am Abgrund, die Stimmung apokalyptisch. Doch die Protagonistin Charlie hat andere Probleme. Die 13-Jährige lebt allein mit ihrer Mutter in einer "Betonmietskaserne". Sie sind soziale Loser. Die Mutter ist überfordert, psychisch krank und Alkoholikerin. Meist liegt sie in der eigenen Kotze. Charlie lebt von Würfelzucker, findet eine Essensquelle in den Containern am Supermarkt. Hegemann seziert die Verwahrlosung. Trotzdem wirkt Charlie furchtlos selbstbestimmt. Als ein Schauspielerpaar in ihre Siedlung zieht, fühlt sie sich zu beiden hingezogen: "Ich wollte nicht adoptiert werden von denen. Echt nicht. Ich wollte die ficken." Und sie tut alles, damit es dazu kommt. Der Roman ist eine futuristische Gesellschaftskritik. Aber vor allem ist er der Beweis, Hegemann ist mehr "als die mit dem Plagiat". Kommen Sie darüber hinweg! Sonst verpassen Sie großartige Literatur. Miriam Böndel
Helene Hegemann: Bungalow, Hanser Berlin, 23 €
Bild: Hanser
Bianca Bellova: Am See
Nami wächst bei seinen Großeltern auf. Die Erinnerung an seine Mutter beschränkt sich auf einen wippenden Pferdeschwanz, die roten Dreiecke eines Bikinis und ein geflüstertes "Alles wird gut, mein Täubchen". Sein Vater? Den gibt es nur als Sehnsucht, die für Nami auch in Form einer Tracht Prügel wahr werden dürfte. Ein gewitztes Kind, das sich sofort in mein Herz geschlichen hat und es auch durch unrühmliche Momente während seines Großwerdens nicht wieder verlassen hat. Die Tschechin Bianca Bellová hat eine schonungslose Geschichte geschrieben, die Realsozialistisches mit Mystischem verschmilzt. Da ist die Fischereikolchose, Lichtjahre entfernt von Netze-werfender-Fischer-Romantik; und da ist der Seegeist, der die Fischer mit Stürmen bedroht und der Todgeweihte zu sich nimmt, die geschmückt in Booten ausgesetzt werden. Bellová legt weder Zeit noch Orte eindeutig fest, was ihrem Buch eine archaische Wucht verleiht. In alldem wächst Nami heran, begegnet der Liebe, sucht seine Mutter. Sucht seinen Weg und einen Platz im Leben. Ein Buch, das lange nachhallt. Silvia Feist
Bianca Bellova: Am See, Kein & Aber, 20 €
Bild: Kein & Aber
Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer
Dass der Roman und ich gute Freunde werden, wusste ich auf Seite 76: „Hätte, hätte, Epaulette“ hat Karen Duve da geschrieben, ein Schabernack, dessen Geist sich durch den ganzen Roman über die junge Annette von Droste-Hülshoff, ihre Familie und ihre Liebesbeziehungen zieht. In ihren präzisen Alltagsbeschreibungen und Familienchronik der Jahre um 1820 – Ergebnisse intensiver Recherche – baut Duve immer wieder Fenster, in denen Humor, Lakonie, Moderne aufscheinen; in denen Gegenwart mit der Vergangenheit kommuniziert. Ihre Annette von Droste-Hülshoff hat ein großes Talent, das unterdrückt wird. Ein Herz, das sich traut und auf die Schönheit reinfällt. Ein Geschlecht, das zur Bravheit erzogen wird. Ein Leben, das in der größten Umbruchphase der Moderne spielt und doch abgeschnitten ist von allen gesellschaftlichen Veränderungen. Kassel, Göttingen, Münster – Karen Duve erinnert daran, dass deutsche Geistesgeschichte andere Orte als Berlin kennt. Und hebt dabei die Lyrikerin und Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff wieder ans Licht, deren Werke in Schulen und Regalen staubig geworden sind, deren Gedanken aber nichts an Frische eingebüßt haben. Julia Möhn
Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer, Galiani Berlin, 25 €
Bild: Galiani
Juli Zeh: Neujahr
Ich bin kein Fan von schmalen Romanen. Für Story und Charaktere ist da oft zu wenig Platz, um sich zu entfalten, und wenn ich auf Seite 100 endlich richtig drin bin, ist das Buch schon fast ausgelesen. Daher war Juli Zehs Bestseller "Unterleuten" für mich ein Fest – und der Argwohn angesichts ihres neuen 190-Seiten-Werks groß. Doch Zeh macht darin alles richtig: Sie konzentriert sich auf eine Person (Henning), einen Ort (Lanzarote), eine Erkenntnis (Man kann seiner Kindheit nicht entkommen). Und so bin ich sofort mit Feuereifer dabei, als Henning bei einer Radtour vor einem Haus strandet, das ihm bekannt vorkommt – obwohl er noch nie auf der Kanareninsel war. Oder doch? Und was hat die einsame Finca mit den Panikattacken zu tun, die er neuerdings hat? "Neujahr" ist eine emotionale Tour de Force in die Vergangenheit, ein Ritt, der einen mitreißt und erschöpft, aber bereichert zurücklässt. Kurz – und trotzdem gut. Christine Ritzenhoff
Juli Zeh: Neujahr, Luchterhand, 20 €
Bild: Luchterhand
Kendare Blake: Der schwarze Thron 1
Es war eine Imkerin, die die Fantasie von Fantasy-Autorin Kendare Blake entfesselte. Sie erzählte ihr, dass eine Bienenkönigin vier, fünf Eier legt und die geschlüpften Bienen einander töten, bis nur die neue Königin übrigbleibt. Und da war sie, die Idee für Blakes spannend-düstere Trilogie: Drei Schwestern werden nach einer idyllischen Kindheit getrennt. Jede von ihnen hat eine Gabe: Arsinoe kann Pflanzen wachsen lassen und mit Tieren kommunizieren, Mirabella kann als Elementarwandler Wind und Wasser beeinflussen und Katharine hat eine besondere Beziehung zu Gift. Eine von ihnen wird Königin. Die beiden anderen werden sterben, getötet von einer Schwester. Und als ob dieser Kampf auf Leben und Tod nicht schon genug wäre, spinnen sich um die drei Verrat und Intrigen – und dann ist da noch die "Widersetzlichkeit", denn eine der Drillingsschwestern will sich entziehen ... Fantasy ist nicht mein klassisches Genre, und ich musste mich erst an die fremde Welt und die Game-of-Thrones-mäßige Menge an Charakteren gewöhnen. Was soll ich sagen? Es hat sich gelohnt! Und ich freue mich schon auf Teil zwei! Annalena Arnold
Kendare Blake: Der schwarze Thron 1, Penhaligon, 14,99 €
Bild: Penhaligon
Jennifer Egan: Manhattan Beach
30er-Jahre, Wirtschaftskrise, New York. Um die Familie zu ernähren, macht Eddie Botengänge für einen zwielichtigen Clubbesitzer – und verschwindet spurlos. Jahre später ist Amerika im Krieg und Eddies Tochter Anna hat seine Rolle übernommen: Tags arbeitet sie in einer Werft und kümmert sich um ihre Mutter und die behinderte Schwester, abends erkundet sie das Nachtleben. Dabei will sie viel mehr: als Marinetaucherin Kriegsschiffe reparieren – und herausfinden, was mit ihrem Vater passiert ist ... Es dauert, bis der neue Roman der Pulitzer-Preis-Trägerin einen Sog entwickelt, doch dann stimmt alles: die starke Hauptfigur, die Sprache und das Ende, mit dem ich so nicht gerechnet hatte. Christine Ritzenhoff
Jennifer Egan: Manhattan Beach, S. Fischer, 22 €
Bild: S. Fischer
Fred Vargas: Der Zorn der Einsiedlerin
Kommissar Adamsberg ist wieder da! Eigenwillig und skurril wie immer. Erst sieht es so aus, als gönne Fred Vargas ihrem Ermittler eine Auszeit auf Island bei seinem Sohn, aber ohne ihn läuft in Paris ja nichts, und so wird er wegen eines mörderischen Ehestreits zurückbeordert. Ein Fall, der für Adamsberg schnell klar ist; eher zufällig stößt er bei den Ermittlungen auf einen Artikel über eine seltsame Häufung von Todesfällen, offenbar hervorgerufen durch das Gift der Einsiedlerspinne. Der Kommissar folgt seinem Gespür. Was erst als "typische Adamsberg-Spinnerei" abgetan wird, führt das Team bald auf die Spur von grausigen Geschehnissen in einem Waisenhaus in den 40er-Jahren – und zur Einsiedlerin … Vargas ist schlau und tiefgründig, ohne darüber je das Savoir-vivre zu vergessen. Und es passt zum Herbst. Denn diesmal ist die Spinnenzeit definitiv Adamsberg-Zeit! Annalena Arnold
Fred Vargas: Der Zorn der Einsiedlerin, Limes, 23 €
Bild: Limes
Elizabeth Strout: Alles ist möglich
Es gibt nicht viele Autoren, die gleichzeitig so feinfühlig und so gnadenlos schreiben wie Elizabeth Strout. Wenn sie Figuren zeichnet, dann ahnt man nicht nur, was diese Menschen antreibt, man glaubt, sie bis ins Tiefste ihres Herzens zu kennen. Diesmal kehrt Strout, wie in ihrem Pulitzerpreis-gekrönten Roman "Mit Blick aufs Meer", in die amerikanische Kleinstadt zurück, und sie nimmt Lucy Barton mit, die Heldin ihres letzten Buchs (fangen Sie ruhig mit diesem an!). Lucy, eine Schriftstellerin, lebt entfremdet von ihrer Familie in New York. Jetzt kommt sie zurück in eine Welt, die Strout durch die Geschichten ganz unterschiedlicher Menschen lebendig werden lässt. Sie erzählt von Sehnsüchten und Ängsten, von Fehlern und dem Mut, sich über alles hinwegzusetzen – wie Mary, die nach 51 Jahren ihren Mann für einen Italiener verlässt und ihrer Tochter zeigt, wie schön das Leben mit 78 in einem gelben Bikini sein kann. Silvia Feist
Elizabeth Strout: Alles ist möglich, Luchterhand, 20 €
Bild: Luchterhand
Wlada Kolosowa: Fliegende Hunde
Als ich Wlada Kolosowas Buch aufschlug und den ersten Satz las, musste ich ihn gleich meinen Kolleginnen vorlesen: "125 Gramm. Die Brotscheibe war nicht viel größer als eine Damenbinde ..." Abends bekam mein Freund dann weitere Passagen zu hören – für mich ist die Geschichte über die Teenager-Freundinnen Oksana und Lena das neue "Tschick". Doch während die beiden Jungs in Herrndorfs Kult-Buch von einer gehörigen Portion Nostalgie umweht werden, ist die Welt, durch die Kolosowa ihre Protagonistinnen stolpern lässt, ganz und gar jetzig. Oksana und Lena wachsen in einer Satellitenstadt von St. Petersburg auf, nur durch eine Wand getrennt, die so dünn ist, dass sie auch gleich in einem Bett schlafen können. Als Lena die Chance bekommt, nach Shanghai zu gehen, um Model zu werden, (bitte lassen Sie sich nicht durch GNTM-Assoziationen abschrecken, das hier ist ein rundum erwachsenes Buch!), bleibt Oksana zurück mit ihrem Schmerz über den Verlust der Freundin und einem modelkarriere-verhindernden Hintern, den "Mammut" aus der 11a zu ihrem Leidwesen als "die größte Sehenswürdigkeit von Krylatowo" bezeichnet. Sie stößt auf ein gefährliches Diät-Forum, das propagiert, dass man nur das essen darf, was es bei der Belagerung Leningrads gab. Bald stellt Oksana fest, dass Lenas demente Oma überraschend viele Erinnerungen hat ... Kolosowa, in St. Petersburg geboren, in Deutschland aufgewachsen, hat ein kolossal wunderbares Debüt hingelegt. Lebensnah und echt. Mit Witz und ganz viel Herz. Silvia Feist
Wlada Kolosowa: Fliegende Hunde,Ullstein fünf, 20 €
Bild: ullstein fünf
Carol Rifka Brunt: Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
Als ihr Onkel Finn an Aids stirbt, glaubt die 14-jährige June, auch ihre Welt endet: Finn ist der einzige, von dem sie sich verstanden fühlte, weil er sie immer wie eine Erwachsene und – anders als ihre Schwester Greta – immer liebevoll behandelt hat. Zu alledem findet June bei der Beerdigung heraus, dass Finn ihr etwas Wichtiges verheimlicht hat: seinen Lebensgefährten Toby, den alle in der Familie nun als Mörder betrachten ... Lange ist mir eine Hauptfigur nicht mehr so ans Herz gewachsen wie June, die sich tapfer durchs Gefühlschaos tastet, um ihren Platz zu finden und erkennt, dass auch alle um sie herum einfach nur geliebt werden wollen. Carol Rifka Brunt hat ihr Debüt zwar erst mit 42 geschrieben, sich aber sehr genau an ihre eigene Jugend und die seltsame Schwelle zum Erwachsenwerden erinnert. Kein Jugendroman, sondern ein kluges, trostreiches Buch. Andrea Benda
Carol Rifka Brunt: Sag den Wölfen, ich bin zu Hause, Eisele, 22 €
Bild: Eisele
Lina Muzur (Hg.): Sagte sie. 17 Erzählungen
Es ist das literarische Buch zur MeToo-Bewegung: 17 Autorinnen, darunter Helene Hegemann, Margarete Stokowski und Nora Gomringer, haben Kurzgeschichten über Sex und Macht geschrieben. Klar, fragt man sich, warum ein Buch mit fiktiven Geschichten, wenn man so viel Echtes dazu lesen kann? Ganz einfach: Literatur ermöglicht, eine Handlung mit Gedanken zu kommentieren, sie auf mehreren Ebenen zu erzählen. Sie gibt die Zeit, die Komplexität des Themas wirklich zu erfassen, mit Facetten und Zwischentönen, ohne direkt Position beziehen zu müssen. Die Geschichten sind so unterschiedlich wie realistisch: Da ist die Frau, die plötzlich im Taxi, die Finger ihres Chefs in der trockenen Vagina hat; da ist eine andere, die unbedingt mit ihrem Chef schlafen will, oder die Geschichte, in der die Tochter das Familiengeheimnis um den Missbrauch der Mutter aufdecken will. Was die Geschichten eint, sind: die Scham, die Wut, die Angst und oft die Sprachlosigkeit. Und die Frage: Was läuft falsch zwischen Frauen und Männern? Miriam Böndel
Lina Muzur (Hg.): Sagte sie. 17 Erzählungen, Hanser Berlin, 20 €
Bild: Hanser
Michel Faber: Das Buch der seltsamen neuen Dinge
Diese Geschichte bohrt sich tief ins Herz. Kein Wunder: Als Michel Faber sie schrieb, starb seine Frau an Krebs. Beim Lesen spürt man Fabers Liebe und Traurigkeit auf fast jeder Seite, auch wenn der Plot erst einmal nicht danach klingt: Ein Pastor missioniert die Bewohner eines fremden Planeten, während seine Frau auf der Erde, mehrere Galaxien entfernt, auf ihn wartet. Wird ihre Liebe die gewaltige Distanz überstehen? Mit großer Lebensklugheit erkundet Faber in den Nachrichten der beiden ihre Liebe. Er kriecht in die Seele des Pastors und verwandelt die Alien-Geschichte in eine ebenso beglückende wie verstörende Studie menschlicher Beziehungen. Eine emotionale Pilgerreise, die alle Genre-Grenzen sprengt – und ein schmerzhaft schöner Abschied. Janis Voss
Michel Faber: Das Buch der seltsamen neuen Dinge, Kein & Aber, 25 €
Bild: Kein & Aber
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