Minimalismus im Alltag – kann man den lernen? Expertin Lina Jachmann gibt Tipps, wie wir Überflüssiges loswerden und uns aufs Wesentliche konzentrieren.
Minimalismus: Tipps, mit denen Einsteiger endlich den Anfang finden
Minimalismus hat viele Gesichter. Ergänzend zu ihrem Ratgeberbuch "Einfach Leben" ist jetzt der "Praxis-Coach" für minimalistischen Lebensstil von Lina Jachmann erschienen: ein Selbstcoaching-Tool mit Übungen und Aufgaben zu Minimalismus und Achtsamkeit. Hier wird der Leser Schritt für Schritt auf den Weg in ein Leben geführt, das sich auf die wesentlichen Dinge konzentriert – im Außen und Innen.
EMOTION SLOW: "Einfach Leben" ist zum Bestseller unter den Minimalismus-Büchern geworden – obwohl oder gerade weil Sie darin auf dogmatische Gebrauchsanleitungen verzichtet haben?
Lina Jachmann: Ich habe damals bewusst keinen Ratgeber geschrieben, der den Leuten per Hauruck-Methode einen minimalistischen Lifestyle verordnet. Einer nachhaltigen Veränderung muss immer ein Umdenken vorausgehen, daran glaube ich ganz fest. Durch die verschiedenen Lebensmodelle meiner Protagonisten wollte ich meine Leser anregen, sich Fragen zu stellen, die tiefer zielen: Warum kaufe ich so viele Dinge? Welches Bedürfnis befriedige ich damit? Welches Defizit steckt möglicherweise dahinter? Und: Passen die Dinge, die mich umgeben, noch zu dem Leben, das ich führen möchte? Bevor man das für sich nicht beantwortet hat, muss man den Entrümpelungsprozess gar nicht beginnen.
Minimalistisch leben – aber wie? Was empfehlen Sie Einsteigern, die sich dem Thema nähern und ihr Leben vereinfachen wollen?
Ich empfehle, da anzufangen, wo es wehtut. Wo der Leidensdruck besonders groß ist oder mich etwas richtig nervt, bestehen die größten Aussichten auf eine nachhaltige Veränderung. Die Klassiker sind dabei überquellende Kleiderschränke oder Badezimmerregale, in denen sich oft Tiegel und Döschen anhäufen, die weder für Mensch noch Umwelt gut sind. Ich empfehle die App CodeCheck, mit der man Barcodes einscannen kann. Hier wird sehr übersichtlich dargestellt, welche bedenklichen Inhaltsstoffe sich darin befinden, wie z. B. Mikroplastik oder chemische Zusätze. Das kann oft helfen, denn von nachweislich schädlichen Dingen trennt man sich ja viel leichter. Außerdem eignen sich Schränke auch deshalb gut zum Einstieg, weil man sie meist an einem Tag bezwingen kann. Besser, man beginnt klein und arbeitet sich langsam zu den komplexeren Themen vor. Für alle, die dann auf den Geschmack kommen und sich größeren Herausforderungen stellen wollen, gibt es im neuen "Praxis-Coach", der etwas konkreter Hilfe bietet, das Minimalismus-Tagebuch, das dich bei deinen persönlichen Themen und Aufgabenstellungen begleitet.
Minimalistisch leben – So geht's: Lina Jachmann gibt Tipps
Minimalismus-Tipp 1: Fang da an, wo’s am meisten wehtut!
Gegenstände brauchen Ordnung, das wissen wir. Schränke eignen sich sehr gut als Einstiegsprojekt, weil man sie an einem verregneten Sonntag bezwingen kann. Diese Aufgabe ist meist nicht so uferlos wie ein ganzer Keller oder Dachboden zum Ballast Abwerfen. Nichts ist schlimmer als eine homöopathische Erstverschlimmerung, wo man nach dem Aufräumen noch mehr Chaos angerichtet hat!
Minimalismus-Tipp 2: Überdenke deine Ernährung!
Meine Erstberührung mit Minimalismus war Essen. Ich habe meinen Speiseplan entrümpelt, indem ich tierische Produkte und industriell verarbeitete Lebensmittel gestrichen habe. Seitdem fühle ich mich fitter, wacher und ausgeglichener. Ich koche jetzt simpler und kaufe bewusst Unverpacktes, um Müll zu vermeiden.
Minimalismus-Tipp 3:Gib Neuem Raum!
Im "Praxis-Coach" geht es nicht nur darum, sich von Überflüssigem zu befreien, sondern auch Gutes in sein Leben zu lassen. Dazu braucht es Mut, aber auch Lust auf Veränderung. Ich möchte immer wieder neue Dinge ausprobieren, an meine Grenzen gehen und mich in der Auseinandersetzung mit neuen Themen und anderen Menschen weiterentwickeln. Lernen ist Leben für mich!
Ich habe gelesen, Sie selbst hätten über den Veganismus zum Minimalismus gefunden. Stimmt das?
Das ist richtig. Es gibt verschiedene Einflugschneisen zum Thema. Viele Leute fühlen sich von der klaren, aufgeräumten Ästhetik minimalistisch eingerichteter Wohnungen angesprochen und nähern sich über diesen Aspekt. Andere kommen eher über den Ressourcen-Ansatz und wünschen sich im Sinne eines Zero-Waste-Konsums Vereinfachung in allen Lebensbereichen. Meine Erstberührung war tatsächlich die Ernährung, ich habe sozusagen meinen Speiseplan entrümpelt und auf vegan umgestellt. Das Schöne ist, dass das Weniger mich dabei keinesfalls unfroh gemacht hat, sondern ich die Konzentration und den Fokus auf die Dinge, die wirklich wichtig und wertvoll sind, als sehr bereichernd empfinde.
Welche Fragen helfen zu entscheiden, ob etwas gehen sollte oder bleiben darf?
Ich stelle am liebsten die Frage: Bereichert es mein Leben? Wenn man darauf nicht klar mit Ja antworten kann, sollte man sich direkt von der Sache trennen. Den meisten Frauen fällt das vor allem bei Klamotten schwer. An Kleidung hängen viele Emotionen: Erinnerungen, aber auch Hoffnungen wie "in diese Hose möchte ich wieder reinpassen". Ich sage dann immer, dass es wichtig ist, Dinge zu besitzen, die das Leben hier und heute schöner machen. Es macht unglücklich, eine Scheinexistenz durch Dinge aufrechterhalten zu wollen. Ich kann versprechen: Beim ersten Mal tut es noch weh, sich von Sachen zu trennen, aber es wird immer leichter. Und es geht immer schneller, denn man wird von Mal zu Mal sicherer in seinen Entscheidungen.
Inwiefern hilft der "Praxis-Coach" beim geistigen Entrümpeln?
Von einem alten Pullover trennt man sich in der Regel viel leichter als von einer alten Gewohnheit. Dennoch habe ich die Erfahrung gemacht, dass das physische Entrümpeln oft ein emotionales nach sich zieht. Im Minimalismus geht es ja darum, etwas loszulassen, was das Leben nicht bereichert. Das können auch Worte sein, Eigenschaften, Tätigkeiten oder sogar Menschen. Das nächste Level nach dem Ausmisten von Dingen ist, darüber nachzudenken, welche Energie- und Krafträuber man um sich hat. Wer gelernt hat, Dinge zu entrümpeln, dem stehen die Werkzeuge zur Verfügung, die man braucht, um auf geistiger Ebene weiterzumachen.
Warum ist Dankbarkeit dabei ein so wichtiger Punkt?
Es gibt den schönen Satz: "Die wirklich wichtigen Dinge im Leben sind keine Dinge." Insofern sind Dankbarkeit und Achtsamkeit eng mit dem nachhaltigen Minimalismus verbandelt. Wer die Schönheit im Kleinen, Beiläufigen entdeckt, realisiert schnell, dass es am Ende sehr wenig ist, was man wirklich braucht.
Minimalismus ist in den letzten Jahren zum Trendbegriff geworden, der in alle möglichen Richtungen gedehnt wurde. Gibt es einen "wahren" Minimalismus, oder soll das jeder interpretieren, wie er will?
Guter oder schlechter, halber oder ganzer – für mich gibt es nur einen Minimalismus, und der ist sehr individuell. Ich sträube mich gegen einen Minimalismus-Wettkampf, es geht nicht darum, wer am wenigsten hat.
Also einfach leben – und leben lassen?
Absolut! Vor allem Energie für negative Gedanken zu verschwenden und andere bekehren zu wollen finde ich tragisch. Der bekannte Minimalist Joachim Klöckner, der tatsächlich nur 50 Dinge bestitzt, hat es so schön auf den Punkt gebracht. Er sagt: "Wenn der Zeigefinger kommt, dann kommt irgendwann als Echo der Mittelfinger."
Der "Praxis-Coach" unterstützt nicht nur dabei, sich von Überflüssigem zu trennen, sondern auch mehr Gutes ins Leben zu lassen. Wovon wünschen Sie persönlich sich noch mehr?
Ich habe große Freude daran zu lernen. Das ist etwas, was mein Leben ausmacht und hoffentlich nie enden wird. Ich möchte immer wieder neue Dinge ausprobieren, an meine Grenzen gehen und mich in der Auseinandersetzung mit neuen Themen und anderen Menschen weiterentwickeln. Gerade habe ich begonnen, Ukulele zu spielen, was mir viel Spaß macht. Ich war kürzlich auch zum ersten Mal in einer Kletterhalle, und zum Jahresbeginn entwerfe ich immer mein persönliches Visionboard mit allem, was ich erreichen möchte. Lernen ist Leben für mich.
Buchtipp
In ihrem Basis-Ratgeber "Einfach Leben" bereitet Lina Jachmann inspirierende Menschen und deren minimalistische Lebensentwürfe ästhetisch im Magazin-Stil auf. (Knesebeck, ca. 25 Euro)
Jetzt gibt es auch das Schritt-für-Schritt-Arbeitsbuch zum Ratgeber: Praktische Übungen, Checklisten, Aufgaben und Tipps helfen dabei, das Leben systematisch zu entrümpeln. (Knesebeck, 18 Euro) Praxis-Coach bestellen