Dauerberieselung auf allen Kanälen – kann es sein, dass wir Stille gar nicht mehr ertragen?
01.08.2023
Selina Jüngling
Pssst, halte mal kurz inne! Was hörst du gerade? Einen Podcast? Musik? Oder läuft irgendwo der Fernseher? Unsere Autorin Selina Jüngling hat festgestellt, dass sie Stille kaum noch aushält. Was das mit ihr macht – und warum wir dringend Ruhe brauchen, um gesund zu bleiben, lest ihr hier.
Schon als Kind habe ich zum Einschlafen "Bibi Blocksberg"-Kassetten gehört. Ohne ging es nicht. Mit der Zeit wurden die Kassetten ersetzt, erst durch CDs, heutzutage durch meine Lieblingsserien. Eigentlich ist es egal, was im Hintergrund läuft – Hauptsache, es ist nicht ruhig. Wenn ich genauer darüber nachdenke, gibt es in meinem Alltag kaum Momente, in denen komplette Stille herrscht (außer vielleicht beim Arbeiten). Selbst während ich nur von dem einen in den anderen Raum laufe, muss mir irgendeine Podcast-Stimme ins Ohr quasseln.
Lärm im Überfluss
Damit bin ich nicht allein (zeigt auch der Tweet links). Bruce Fell, Dozent für "Communication and Creative Industry" an der australischen Charles Sturt University, hat über sechs Jahre das Medienkonsumverhalten seiner 580 Student:innen analysiert. Sein Fazit: Der ständige Lärm um sie herum, erzeugt durch Fernsehen, Musik und andere Medien, hat dazu geführt, dass sie sich antrainiert haben, keine Stille mehr ertragen zu können. Die Studie ist im Übrigen von 2012. Seitdem hat sich das Phänomen noch verstärkt, ich sage nur: Podcast-Hype.
Laut dem britischen Hypnotherapeuten Dominic Knight sei die Anzahl der Menschen, die unter der Angst vor Stille (im Englischen auch "sedatephobia") leiden, in den letzten 20 Jahren stark gestiegen. Überhaupt gäbe es diese Phobie erst seit circa 50 Jahren. Ein weiterer Beweis dafür, dass wir in einer lauten Welt leben. Die Millennial-Generation war eine der ersten, die im ständigen Geräuschpegel groß geworden ist. Fernseher, Kassetten- oder CD-Player, irgendwas dudelte immer im Hintergrund. Über die Jahre kamen immer mehr Möglichkeiten und Plattformen hinzu, sodass man heutzutage fast schon überfordert ist vom ganzen Medienangebot: Höre ich beim Kochen nun einen Podcast oder doch lieber das neue Album von Taylor Swift? Ich könnte mir aber auch eine Folge dieser gehypten Netflix-Serie anmachen, die ich unbedingt noch sehen muss… Jede geräuschfreie Sekunde muss genutzt werden, um Medien zu konsumieren. Sonst kommt man den ganzen neuen Trends ja gar nicht hinterher!
Warum haben wir Angst vor Stille?
In ihrem Song "Sober" singt Popstar Pink: "The quiet scares me cause it screams the truth" – "Die Stille macht mir Angst, denn sie schreit die Wahrheit". Da ist was dran. Wenn wir nicht abgelenkt sind, driften unsere Gedanken ab – unter Umständen in Sphären, die uns unangenehm sind. Habt ihr nicht auch schon mal schlaflos im Bett gelegen und plötzlich ist euch diese eine peinliche Situation von vor fünf Jahren eingefallen, die euch immer noch zusammenzucken lässt? Wenn wir den Gedanken freien Lauf lassen, erkunden sie verstaubte Gegenden in unserem Gehirn, die sie schon lange nicht mehr aufgesucht haben. In denen können sich verdrängte Ängste und Selbstzweifel verstecken – aber eben auch Kreativität und Inspiration.
Hast du schon mal darüber nachgedacht, wann dir das letzte Mal langweilig war? Ist wahrscheinlich schon ein bisschen her, oder? Dabei sind einem als Kind gerade in diesen von Langeweile geplagten Momenten die besten Ideen gekommen. Warum das so ist, wurde sogar schon wissenschaftlich bewiesen: Wenn man nicht abgelenkt wird, schaltet sich das sogenannte "Default Mode Network" im Kopf ein, wodurch die Gedanken fließen – und zwar in alle möglichen Richtungen. Die perfekte Grundlage für Geistesblitze!
Eine weitere Studie zeigt, dass schon zwei Stunden Ruhe am Tag dazu führen können, dass sich neue Zellen im Hippocampus entwickeln. Das ist der Teil im Gehirn, der für Lernprozesse und Gedächtnisinhalte zuständig ist. Stille macht uns aber nicht nur schlauer, sie kann zudem stressreduzierend wirken und Geduld fördern.
Ruhe bitte!
Auch wenn wir Angst davor haben: Stille tut uns gut. Bloß, wie kommt man in dieser lauten Welt überhaupt noch zur Ruhe? Die gute Nachricht: alles eine Gewöhnungssache. Wenn man sich oft genug dazu durchringt, für eine Zeit das Handy wegzulegen und alle möglichen Soundquellen im Umfeld auszuschalten, kann man sich mit der Stille versöhnen. Noise-Cancelling-Kopfhörer sind dabei eine große Hilfe. Es muss ja nicht direkt eine zweistündige Meditations-Session sein. Beginne vielleicht einfach mal damit, beim Kochen den Podcast wegzulassen – ein kleiner Schritt für dich, ein großer Schritt für deine innere Ruhe!