Grenzen ziehen, auf die eigenen Bedürfnisse achten - das fällt nicht jedem leicht. Wie das geht, erklärt Yogalehrerin Annika Isterling.
Der erste Gedanke, der einem durch den Kopf schießt, wenn man das Wort Grenze hört, ist Enge, Freiheitsverlust und Eingeschränktheit. Vielleicht ist das der Grund, warum es heute kaum noch Grenzen zu geben scheint. Wir teilen, wir verbinden und wir tauschen uns weltweit untereinander aus. Wir arbeiten in Großraumbüros, verbinden Privates und Job ohne zeitliche und räumliche Trennung miteinander, arbeiten im Café oder online aus aller Welt. Unseren Lebenspartner lernen wir nur noch selten in unserer eigenen Stadt in der Supermarktschlange kennen, sondern immer öfter über Internetportale oder auf Social-Media-Kanälen. In Restaurants heißt der Trend "Food-Sharing", und bei unseren Kindern wollen wir am liebsten nicht mehr nur die Erzieher, sondern auch deren beste Freunde und Vertraute sein.
Herausforderung unserer Zeit: Haben wir verlernt Grenzen zu setzen?
Nichts ist mehr klar definiert, denn alles ist möglich, verwoben, verbunden und vernetzt. Selbst über uns und unsere Zeit gibt es keine klaren Grenzen mehr. Da wird kommentarlos am Wochenende gearbeitet, einkaufen ist im Supermarkt bis Mitternacht möglich, und übers Netz beschaffen wir uns alles von überallher und connecten uns mit allem und jedem. Oder wer hat im letzten Urlaub tatsächlich mal sein Handy ausgeschaltet, um zwei Wochen nicht erreichbar zu sein?
Lange Arbeitszeiten und der Druck dahinter lassen das Adrenalin rauschen, denn es hört sich ja immer irgendwie gut an zu sagen, wie busy und im Stress man gerade ist. Der eine oder andere mag sich vom High des Jobs getragen und gepusht fühlen. Doch spätestens, wenn man merkt, wie fremdgesteuert man ist und der Tag von Deadlines bestimmt wird, schwindet alle Freude und Kreativität. In einer Welt, in der alles möglich ist, uns so viele Wege und Optionen offenstehen, mag sich kaum noch jemand festlegen. Ob privat, in einer Beziehung oder im Berufsleben – langfristige Strategien und Commitments scheinen überholt. Das einzige, was zählt, ist der Moment. Nicht umsonst lautet einer der meistzitierten Mindfulness-Slogans:
"All we have is now".
Stimmt! Einerseits. Doch was mich bewusster im Moment sein lässt, sollte nicht den Blick aufs große Ganze verstellen. Das gilt für Themen wie die globale Klimakatastrophe genauso wie für unser privates Chaos im Alltag. Wer nur den Augenblick genießt, ohne Körper und Geist langfristig Aufmerksamkeit zu schenken, gerät früher oder später aus der Balance. "In einer Kultur, in der Erschöpfung als Statussymbol gesehen wird, braucht es Mut, Ja zu Pausen zu sagen", sagt die US-Autorin Brené Brown, deren psychologische Schriften zur Lebensführung eine weltweit wachsende Leserschaft finden.
Schafft Grenzenlosigkeit wirklich Freiheit?
Ich selbst erinnere mich noch gut an meine Kindheit, in der unter der Woche zwischen 13 und 15 Uhr die Arbeit stillstand, der Sonntag war ohnehin ein Ruhetag. Heute sind wir sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag erreichbar, tun und machen ohne Unterlass. Doch schafft diese Grenzenlosigkeit wirklich Freiheit? Schafft sie, dass wir uns weit und leicht fühlen? Gibt sie uns alle Möglichkeiten, oder sehnen wir uns in Wahrheit nicht nach etwas mehr Definition und Abgrenzung?
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So romantisch es beispielsweise klingen mag, in der freien Natur zu übernachten – wir würden uns dort einen Ort suchen, der Schutz bietet. Auch Wildtiere verhalten sich so: Sie gehen zwar zum Jagen und Grasen auf freie, weite Flächen, zur Nacht aber suchen sie Rückzug und Begrenzung. Klar begrenzte Räume vermitteln uns nicht nur ein Gefühl der Sicherheit, sie ermöglichen auch, dass wir beim Heraustreten aufatmen und uns mit neuer Energie entfalten können.
"Klar begrenzte Räume vermitteln uns nicht nur ein Gefühl der Sicherheit, sie ermöglichen auch, dass wir beim Heraustreten aufatmen und uns mit neuer Energie entfalten können."
Annika Isterling, Autorin und Yogalehrerin über Selbstfürsorge im AlltagTweet
Wer schon mal einen Konflikt oder gar handfesten Streit mit einer anderen Person hatte, weiß, wie gut es tut, sich für ein paar Minuten aus der Situation herauszuziehen – körperlich und emotional. Eine Grenze zwischen sich und dem Vorfall zu ziehen und tief durchzuatmen vergrößert unseren Handlungsspielraum. Dabei ist es elementar, auch mal "Nein" zu sagen, um viele "Jas" für sich selbst folgen lassen zu können. Auch für den Körper müssen wir unsere Grenzen sensibel erspüren lernen. Selbst wenn Berührungen oft heilsam sind, ist es okay, nicht jeden bei der Begrüßung gleich zu umarmen oder Küsschen zu verteilen. Es ist wichtig, auf seine eigenen körperlichen Grenzen, auf die der anderen und besonders auf die von Kindern Rücksicht zu nehmen.
Selbstfürsorge heißt, das Energie-Konto immer im Blick zu behalten
Die eigene Energie durch Grenzen zu schützen kann auch beinhalten, bewusste Entscheidungen für Nahrungsmittel zu treffen, Zeit für körperliche Entspannung sowie emotionale Heilung einzuplanen. Stell dir deine Energie wie ein Bankkonto vor, auf dem die Einzahlungen immer größer sein sollten als die Abbuchungen.
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Yogapraxis gibt uns die Möglichkeit, unsere eigenen Grenzen und Widerstände in etwas Positives zu verwandeln. Durch die Beschränkung, die man dem Körper in gewissen Positionen gibt, ist anschließend eine Gegenbewegung möglich – neuer Raum, um Öffnung zu finden, sich auszuweiten, den Blick zu öffnen. Es hilft dabei, die Enge, die durch eine solche Begrenzung zunächst entsteht, nicht als etwas Negatives zu betrachten, sondern als Chance – ein Entwicklungsfeld, in das ich mehr positive Energie geben kann.
Grenzen im Denken zu setzen ist ein wichtiger Akt der Selbstfürsorge
In unseren Gedanken gibt es sie schließlich auch, diese kleinen dunklen Orte, die uns energetisch nach unten ziehen. Aber wir können uns immer entscheiden: Folgen wir dem negativen Strudel der Zweifel und Kritik, oder grenzen wir uns davon ab, um die Gedanken umzupolen? Grenzen im Denken zu setzen ist ein wichtiger Akt der Selbstfürsorge. Grenzen schränken uns nicht ein, sondern können uns Gefühle großer Freiheit schenken.

Annika Isterling ist Yogalehrerin, Buchautorin sowie Coach und Dozentin für Unternehmen. Sie gibt Retreats in aller Welt, nächste Retreat-Reisen finden ab 2021 in Mallorca, an der Ostsee oder in Südtirol statt: www.annikaisterling.com
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