Menschen brauchen positive Emotionen in ihrem Leben, aber zu viel Optimismus kann auch ins Toxische umschlagen. Was ist Toxic Positivity, wie erkennt man zwanghaft positives Denken – und wie löst man sich nachhaltig davon?
Toxic Positivity – was ist das?
Der US-amerikanische Psychologe Konstantin Lukin beschreibt das Konzept so: "Toxische Positivität ist die Praxis, sich ständig als optimistisch darzustellen und gleichzeitig alles abzulehnen, was als negative Emotion wahrgenommen werden könnte." Positiv denken um jeden Preis also.
Anhänger:innen dieser vermeintlich optimistischen Haltung sind der Ansicht, dass ein ausschließlich positives Mindset sie nachhaltig glücklicher macht. Negativ konnotierte Gefühle wie Wut oder Trauer werden, wenn sie aufkommen, zu diesem Zweck einfach ignoriert und unterdrückt. Und wenn doch Ereignisse auftreten, die einen herausfordern und belasten, versuchen Anhänger:innen von toxischer Positivität, um jeden Preis einen positiven Aspekt an Krisen zu finden. Vor allem auf sozialen Medien wie Instagram boomt der "Good vibes only"-Grundsatz.

In den vergangenen Jahren wird aber immer wieder an dieser weit verbreiteten Haltung gerüttelt. Die Autorin und Journalistin Anna Maas, die toxische Positivität in ihrem Buch "Die Happiness Lüge" kritisiert und demontiert, erklärt das Prinzip in einem Interview folgendermaßen: "Stellen Sie sich vor: Ich verliere einen geliebten Menschen. Nach dem Good-vibes-only-Prinzip müsste ich daraus sofort einen positiven Nutzen ziehen, zum Beispiel das Leben wieder ganz neu zu schätzen wissen. Nein! So ein Verlust darf auch einfach nur wehtun, auch nach vielen Jahren noch."
Lies auch:
- Wann hören wir auf mit dem ewigen Selbstoptimierungswahn?
- Decision Fatigue: Zu viele Entscheidungen fördern das Phänomen
- Strategische Inkompetenz: Die Ausrede "Du kannst das viel besser" zieht ab jetzt nicht mehr
- Besser zuhören: Wie man anderen das Gefühl gibt, wirklich gehört zu werden
Warum ist Toxic Positivity gefährlich?
Dass positive Gedanken und eine optimistische Grundhaltung Vorteile für unser Leben bieten, ist ein gängiger Konsens der Wissenschaft und auch zahlreich belegt worden. Eine Studie, die letztes Jahr im "Journal of the American Geriatrics Society" veröffentlicht wurde, zeigte beispielsweise: Menschen mit einer optimistischen Einstellung haben bessere psychosoziale Ressourcen, die vorteilhaft für die eigene Gesundheit sind, können besser mit Stress umgehen und ihre Emotionen und ihr Verhalten besser regulieren. All das könne dazu beitragen, dass sie gesünder altern und länger leben als Pessimist:innen, so die Studie.
Es vergiftet unser Leben, wenn wir uns ausschließlich auf das Gute fokussieren
Michaela Brohm-Badry, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Positiv-Psychologische ForschungTweet
Aber auch darin, dass zu viel Optimismus und die Verdrängung negativer Emotionen schädlich ist, sind sich Wissenschaftler:innen und Psycholog:innen weitgehend einig. Gefährlich wird es laut ihnen vor allem dann, wenn man den negativen Emotionen in seinem Leben keinen Raum mehr gibt. "Es vergiftet unser Leben, wenn wir uns ausschließlich auf das Gute fokussieren", sagt Michaela Brohm-Badry dem RND. Sie ist Professorin, gilt als eine der renommiertesten Wissenschaftlerinnen für positive Psychologie und ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Positiv-Psychologische Forschung. "Wenn man alles, was negativ ist, verdrängt, wird man taub gegenüber seinen Emotionen – auch gegenüber den positiven. Weil wir ein Stück von uns selbst von unserem tatsächlichen Empfinden abschneiden."
Denn auch negativ konnotierte Gefühle wie Wut, Trauer oder Frust haben ihre Daseinsberechtigung – und werden im besten Fall anerkannt statt unterdrückt. Schon Freud war sich sicher: Das Unterdrücken von Gefühlen schadet uns. Auch aus heutiger wissenschaftlicher Sicht gibt es einige Anhaltspunkte, die ihm recht geben. So fand eine US-amerikanische Studie heraus, dass Zorn, der langfristig unterdrückt wird, häufig zu destruktiven Bewältigungsmechanismen wie Drogenkonsum oder Aggressionen führt. Auch die Wahrscheinlichkeit einer Depression erhöht sich laut der Studie bei Personen, die ihre negativen Emotionen unterdrücken.
Gesunder Optimismus oder Empathielosigkeit?
Kritiker:innen von Toxic Positivity verweisen neben negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit außerdem auf die zwischenmenschliche Komponente von toxischer Positivität. Der Tenor: Wer nicht imstande ist, die eigenen negativen Emotionen anzuerkennen und zuzulassen, ist dazu auch nicht bei anderen in der Lage.
"Es ist gar nicht so einfach, nicht sofort mit einem super Ratschlag um die Ecke zu kommen", sagt etwa die Autorin von "Die Happiness Lüge", Anna Maas. "Man will ja, dass es der anderen Person schnell besser geht und eine Lösung für die Probleme anbieten. Dabei hilft es oft viel mehr, einfach nur zuzuhören, in den Arm zu nehmen und da zu sein."
Wie man sich von Toxic Positivity lösen kann
Laut Maas ist es hilfreich, ehrlich mit den eigenen Gefühlen umzugehen und sie auch so zu kommunizieren. Das geht im Gespräch mit Freund:innen, aber auch für sich selbst – zum Beispiel, indem man ein Tagebuch führt. So etabliert man eine offene Gesprächskultur, in der auch vermeintlich negative Gefühle Platz haben und neigt nicht dazu, sie zu unterdrücken. Laut der Politologin und Journalistin Juliane Marie Schreiber ist auch Fluchen ein valides Mittel im Kampf gegen des "Terror des Positiven", wie sie es formuliert. In ihrem Buch "Ich möchte lieber nicht" ermuntert sie Leser:innen dazu, öfter mal anzusprechen, was einem nicht passt – und diesen Empfindungen ruhig auch mit Kraftausdrücken Nachdruck zu verleihen.
Mehr Themen: