Riccardo Simonetti hat ein gutes Herz! Ein Kämpferherz. Und damit streitet der Entertainer und EU-Sonderbotschafter für LGBTQI*-Rechte für eine gerechtere Welt, in der wir alle frei leben können.
Riccardo Simonetti, 28, ist in Oberbayern zur Welt gekommen und aufgewachsen. Mit 16 spielte er am Theater, mit 18 startete er ein Blog, das den Grundstein für seine heutige Karriere als Influencer, Entertainer und EU-Sonderbotschafter für LGBTQI*-Rechte legte. Er ist unser erster Mann auf dem Cover, weil er mit Lust und Liebe Geschlechterrollen durcheinanderwirbelt. Und weil er eine besondere Antwort auf Gewalt hat: radikale Empathie.
EMOTION: Riccardo, wie fühlst du dich gerade?
Riccardo Simonetti: Ehrlich? Am Rande des Nervenzusammenbruchs. Es ging heute früh um fünf damit los, dass im Zug mein Smoothie explodiert ist. Alles war voll mit dem braunen Zeug. Es sah aus, als hätte ich ein Baby mit akutem Durchfall dabei.
Du hast schon in ganz anderen Situationen die Nerven behalten müssen. Mobbing, Hass und Aggressionen haben dich in der Schulzeit begleitet. Empfindest du selbst manchmal Hass?
Hassähnliche Gefühle kennen wir vermutlich alle, wenn wir ungerecht behandelt oder verletzt werden. Ich wurde lange gehasst, weil ich einfach nur ich war.
Hattest du das Gefühl, dass der Hass den Menschen Lust bereitet?
Ich glaube, Menschen, die diese Art von unbegründetem Hass verbreiten, hassen aus Angst, ihren Platz in der Gesellschaft zu verlieren. Aber meine Generation akzeptiert Diskriminierungen nicht mehr. Randgruppen lassen sich nicht mehr alles gefallen. Ich will eine Gesellschaft, in der jedes Individuum geschätzt wird. Selbst wenn du Teil der Mehrheitsgesellschaft bist, kann es sein, dass du ausgegrenzt wirst, sobald du alt bist, dann kannst du froh sein, wenn unsere Gemeinschaft Platz für alle lässt.
Wer hat weggeguckt, als du dem Hass ausgesetzt warst?
Alle. Wichtiger ist die Frage, wer hat hingeguckt und nicht gehandelt? Als Kind konnte ich Lehrer*innen und anderen Eltern nicht sagen, "Hey, ich bin anders", ich brauche euren Schutz. So etwas auszusprechen fiel mir nicht leicht.
Wie sah deine Realität als Kind aus?
Ich bin in einem Frauenhaushalt in Bayern auf dem Land aufgewachsen. Weibliche Energie hat mich inspiriert. Ich mochte Spielzeug, das ursprünglich für Mädchen entworfen worden war. Das war für viele ein Problem, auch für meine Mutter. Sie musste sich rechtfertigen, wenn ich Barbies oder Glitzerklamotten wollte. Sie bekam die Schuld für meine ausgeprägte Femininität.
Nur wenige Menschen machen ihre Geschichten öffentlich, obwohl sie so vielen von uns passieren.
Riccardo Simonetti im EMOTION-InterviewTweet
Was dein Coming-out für deine Mutter und dich bedeutete, erzählst du in deinem neuen Buch. Du bist in der Schule gemobbt worden, weil du aufgefallen bist, einmal sogar im Bus angezündet worden.
Das ist Realität für viele, die anders sind. Ich bin nicht der erste schwule Junge, der grundlos verprügelt wurde.
War es nicht schmerzhaft diese Geschichten noch mal zu erzählen?
Nur wenige Menschen machen ihre Geschichten öffentlich, obwohl sie so vielen von uns passieren. Natürlich macht es keinen Spaß, sich die Demütigungen und die Wunden erneut anzuschauen. Aber ich will Menschen sensibilisieren, netter miteinander umzugehen, dafür muss ich zurück zum Schmerz. Auch du kannst morgen die Person im Raum sein, die allein mit ihrer Meinung dasteht, dann gilt es zuerst, zu sich zu stehen. So wie du bist, bist du gut.
Was für einen Unterschied macht es, als queeres Kind auf dem Dorf oder in der Stadt aufzuwachsen?
Die Stadt bietet mehr Identifikationsfiguren. Aber auch in deiner Schule in der City kannst du in einer Blase gefangen sein, wenn da eine andere Norm gilt, als die, die du lebst. Teenie-Dynamiken sind immer gleich, du willst dich der Mehrheit anpassen. Dorf oder Stadt, das ist bei Gruppenzwang auch egal.
Schulwechsel, ein neuer Haarschnitt waren auch keine Lösung, oder?
Madonna konnte mit jeder neuen Platte ihr Image ändern, ich bin immer Riccardo geblieben. Ich wurde gemobbt mit langen Haaren und Paillettenoberteil, aber auch in T-Shirt und Jeans. Meine Devise war stets: Wenn ich schon gemobbt werde, will ich wenigstens dabei Spaß haben und wie ich selbst aussehen.
Was ist deine Antwort, auf die Gewalt und seelischen Verwundungen?
Radikale Empathie! Das praktiziere ich für Menschen, die anders sind, aber auch für die Menschen, die noch Probleme mit uns der LGBTIQ*-Community haben. Die eine Blase ist tolerant, lernt permanent dazu. Die andere Blase hält an alten Stereotypen fest, ist festgefahren. Beide müssen koexistieren, am besten aber miteinander verschmelzen.
Also Dialog mit denen, die illiberal, reaktionär, konservativ denken?
Menschen, die mich verletzt haben, bekommen durch die Begegnung und das Gespräch die Chance zu sehen, was in mir vorgeht. Nur wenn wir unsere Blase verlassen, können wir etwas verändern.
Radikale Empathie für dich selbst musstest du auch erst lernen, oder?
Ich versuche, mir ein Leben zu bauen, in dem ich ich selbst sein kann, in dem ich für die Eigenschaften geschätzt werde, die mich ausmachen. Das Ziel nah bei dir selbst zu sein, ist schwer zu erreichen. Wir erreichen zwar Etappenziele, aber nie final die Bergspitze. Wir haben nie alles, was wir emotional brauchen. Es ist ein ständiger Prozess dir zu erkämpfen: du selbst sein zu dürfen.
Ist das als öffentliche Person leichter?
Öffentlichkeit ist auch der Freifahrtschein, dich zu verurteilen, zu beurteilen. Auch als Star darfst du nicht nur du selbst sein, wir geraten immer wieder in Konstrukte von neuen Erwartungen.
Macht der Ruhm, dein Sehnsuchtsort Bühne, dich denn glücklich?
Bedingt.. Jeder von uns hat ja mehrere Facetten. Der Ruhm befriedigt nicht alle Facetten, klar. Aber meine selbstdarstellerischen befriedigt er schon sehr (lacht).
Wie viel von dem kleinen Jungen, der heimlich mit Barbie gespielt hat, steckt noch in dir? Hast du ihn mitgenommen in die Öffentlichkeit?
Zu 100 Prozent! Heute brauche ich keine Barbiepuppe mehr, ich bin meine eigene Barbiepuppe. Ich verwandele mich eben gern. Damals habe meinen Puppen gern aus Tüchern und Waschlappen Klamotten gemacht.
Frottee!
Frottee war hip! Auf der Fashion Week war ich gerade in einem hautengen Outfit von Thierry Mugler. Ich habe mich sauwohl gefühlt, obwohl es mich Überwindung gekostet hat, damit selbstbewusst auf das Event zu gehen. Der erste Kommentar war: "Oh, Ihr Outfit ist aber ganz schön eng!" Draußen müssen wir alle mit der Meinung der anderen zurechtkommen, da kannst du dich vor deinem Kleiderschrankspiegel noch so gut finden. Kleidung ist nicht nur Oberfläche, es passiert etwas in mir, je nachdem, was ich trage. Manchmal muss es eben ein textiler Mittelfinger sein.
Ich habe schnell gemerkt, dass dir Nächstenliebe oft nur dann zuteil wird, wenn du so bist, wie man dich haben will.
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Du kommst aus einer italienischen Einwandererfamilie, Eiscafébesitzer, sehr katholisch. Wie hat dich das geprägt?
Ich war Ministrant und auf einer christlichen Privatschule. Werte wie Nächstenliebe haben mich geprägt, aber ich habe auch schnell gemerkt, dass dir Nächstenliebe oft nur dann zuteil wird, wenn du so bist, wie man dich haben will. Vom Elternhaus aus sollte ich einen Mehrwert für mein Umfeld darstellen, höflich, nett und verbindlich sein.
Du bist mit einer Mutter aufgewachsen, die ihre Bedürfnisse kaum kannte, geschweige denn ausleben durfte. Sie hat viel darauf gegeben, wie andere Menschen sie beurteilen, was die Nachbarn wohl denken.
Ja, sie kommt aus einem katholisch geprägten Umfeld. Sie hat mich immer geliebt, aber sie hatte früher auch eine klare Vorstellung, wie ihr Sohn zu sein hatte: Fußball spielen, Formel 1 gucken – meine Mutter hat erst lernen müssen, mit jemandem wie mir als Kind umzugehen. Dabei hat sie ein paar Fehler gemacht, die ich ihr aber verzeihe, weil auch sie nur die Tochter ihrer Eltern ist. Unsere Eltern sind keine perfekten Fabelwesen. Ich war für meine junge Mutter sicherlich ein anstrengendes Kind.
Aber ihr konntet miteinander reden?
Man bekommt eine gute Eltern-Kind-Beziehung nur hin, wenn man miteinander redet. Eltern müssen offen dafür sein, auch von den Kids etwas zu lernen. Ich bin so dankbar, dass meine Mutter bereit war dazuzulernen. Heute würde sie mit dem kleinen Jungen, der ich damals war, ganz anders umgehen. Es geht nicht darum fehlerlos in der Erziehung zu sein, sondern darum, nicht denselben Fehler dauernd zu wiederholen.
"Sei du selbst" – das ist so leicht gesagt. Es ist schon ein langer Weg bis dahin, oder?
Sei du selbst, ist oft eine Lüge, die man sich erzählt, damit sich alle wohlfühlen. Sei einfach du selbst, ist oftmals ein Irrglaube. Was, wenn du es wirst, und dann will dein Umfeld das nicht? Alles, was man tun kann, ist die Person zu sein, die man ist. Seinen eigenen Weg gehen. Das gilt aber eben auch für den Englischlehrer eurer Kinder, der vielleicht gern in einem Glitzer-Outfit unterrichten möchte. Auf meinem Schulweg habe ich immer Kopfhörer getragen, damit ich die Beschimpfungen nicht höre, die andere mir verächtlich hinterhergerufen haben. Ich kann Menschen nur dazu einladen, ein Teil meines Lebens zu werden. Wenn’s klappt, ist es schön, wenn sie das nicht sein wollen, dann kann ich es auch nicht ändern.
Warst du oft einsam auf deinem Weg zu dir selbst?
Eher isoliert. Allein war ich nie. Meine Girls-Power-Freundinnen-Schutzwand war immer für mich da. Das war eine starke Verbindung. Die haben mich bis aufs Blut beschützt und sich zur Not auch für mich geprügelt. Frauen waren immer mein safe space.

Das Interview mit Riccardo Simonetti findet ihr auch in unserem neuen Heft. Das könnt ihr im Handel kaufen oder versandkostenfrei hier bestellen
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